Einen wunderschönen guten Abend,
über die positiven Reaktionen auf den ersten Teil habe ich mich sehr gefreut. Hier also nun Teil 2 von insgesamt vermutlich 11. Wie regelmäßig die neuen Teile kommen, kann ich noch nicht garantieren, aber ich werde versuchen, zumindest alle zwei Wochen einen neuen Teil zu veröffentlichen.
Ich wünsche allen, die meinen Blog verfolgen, einen guten Rutsch ins neue Jahr und ein paar hoffentlich freie Tage,
Grüße,
Larry deVito
—
Arno Wilhelm – Dem Ende entgegen – Download Kapitel 1 – 2
—
Kapitel 2
Zum tausendsten Mal starrte Micha auf den kleinen weißen Zettel, den ihm der Automat in der Klinik letzte Woche ausgedruckt hatte. Ein Stück Papier, nicht größer als ein Briefumschlag, unspektakulär eigentlich. Wenig Text, und doch so voller Information. Drei Punkte standen darauf, abgesehen von seinem Namen und seiner Identifikationsnummer. Der Name der Krankheit, mögliche Therapien und die Lebenserwartung. Unter den Worten „Bronchialkarzinom (spätes Stadium)“ hatte er sich zumindest in der Klinik noch nicht viel vorstellen können, auch wenn das mit dem späten Stadium nichts Gutes hatte erahnen lassen. Nur, dass die Bronchien etwas mit dem Brustkorb und dem Atmen zu tun hatten, daran hatte er sich dunkel erinnert.
Ganz anders verhielt es sich da mit den beiden Punkten darunter. Neben den Worten „Mögliche Therapien“ stand nur „Chemotherapie / keine“, was bedeutete, dass es zur Chemo keine Alternativen geben würde. Da hatte er bereits vermutet, dass ein Bronchialkarzinom irgendeine Art von Krebs war. Krebs war die einzige Krankheit von der er je gehört hatte, die mit Chemotherapie behandelt wurde. Der letzte der drei Punkte war es schließlich gewesen, der ihm den Angstschweiß auf die Stirn getrieben hatte.
„Lebenserwartung (mit / ohne Therapie): 4 Monate / 4 Monate“
stand dort, in dieser schnörkellosen, schwarzen Schrift. Er hatte es nicht glauben können. Die Apparate mussten sich geirrt haben, irgendwo musste hier ein gigantischer Fehler vorliegen. Doch das war unwahrscheinlich. Nicht ein einziges Mal in seinem ganzen Leben hatte er gehört, dass eines der diagnostischen Geräte sich geirrt oder einen Fehler gemacht hatte. Aber drei Monate? Sicher, er hatte in den vergangenen Monaten fast permanent Schmerzen gehabt, oft auch Schmerzen in der Brust, ab und zu ein bisschen Blut gehustet, aber deswegen hatte man doch noch lange keinen Krebs. Daran starb man doch nicht. Jeder hatte doch mal Schmerzen. Jetzt wünschte er sich, er wäre nie in diese Klinik gegangen. Stundenlang ein unangenehmer Test nach dem anderen, bis der komplette Checkup vollendet war. Auf dieser kalten Krankenbahre liegen, während die Geräte im Raum den Körper auf Krankheiten absuchen. Schließlich eine Viertelstunde Wartezeit, und dann wurde die Diagnose ausgegeben. Diese verdammte Diagnose. Das Wort Krebs schien sich selbst jetzt, eine Woche später, noch in seinen Augapfel eingebrannt zu haben. Auch wenn er die Augen schloss, war es noch da und verhöhnte ihn. Dieser kleine weiße Zettel hatte sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt, all seine Pläne für die Zukunft zunichtewerden lassen. Was konnte er noch tun? Was fing man mit drei Monaten an, mit den drei letzten Monaten seines Lebens? Musste er jetzt nicht noch irgendetwas Bedeutsames tun?
Keinem Menschen auf der Welt hatte er bisher von dieser Sache erzählt. Seinen Eltern nicht, seiner Schwester nicht, und auch keinem seiner Freunde. 31 war doch kein Alter, in dem man Krebs bekam. War das nicht etwas für alte Leute? Als er von der Klinik nach Hause gekommen war, hatte er sich noch einmal vergewissert, dass er das Wort Bronchialkarzinom richtig interpretiert hatte.
Dann hatte er sich auf sein Bett gelegt und darüber nachgedacht, wie es nun weitergehen sollte. Nur eines war schnell klar gewesen: Chemotherapie wollte er keine. Darüber hatte er ein bisschen was in der Schule gelernt, und er erinnerte sich noch zu gut an all die Nebenwirkungen, die da aufgezählt gewesen waren. Wenn er nur noch drei Monate zu leben hatte, wollte er die mit Sicherheit nicht im Krankenhaus verbringen. Doch was konnte er mit ihnen anfangen? Genau genommen hatte er die ganze vergangene Woche so gut wie nichts anderes gemacht, als genau darüber nachzudenken. Gestern war er dann endlich zu einer Entscheidung gekommen, und hatte für den heutigen Abend den Termin ausgemacht. Wieviel Uhr es jetzt wohl war? Den ganzen Vormittag hatte er nicht gewagt, seine Armbanduhr aus dem Nachttisch zu holen, in dem Bewusstsein, dass der Abend langsam aber stetig näher rückte. Auch wenn die Schmerzen nach wie vor furchtbar waren, war er sich nicht vollkommen sicher, wie er seinem Entschluss von gestern gegenüber stand. Nicht sicher, ob es die richtige Entscheidung war, auch wenn er das Gefühl hatte, jeden Aspekt bedacht zu haben.
Er gab sich einen Ruck, stand auf und schleppte sich mühsam in die Küche. Leuchtend rot prangte ihm die Uhrzeit vom Herd entgegen. Viertel vor Eins. Erst letztes Jahr hatte er seine ganze Wohnung neu eingerichtet. Hätte er da gewusst, wie wenig Zeit ihm noch bleiben würde, dann hätte er sicher besseres mit seiner Zeit und seinem Geld anzufangen gewusst.
Das Thema Zeit schien immer mehr zu seinem Lieblingsthema aufzusteigen. Plötzlich war sie so kostbar. Dieses Bewusstsein machte ihm überhaupt erst klar, wie sehr er seine bisherige Lebenszeit vergeudet hatte. Unzählige Urlaube, an irgendwelchen Stränden Cocktails schlürfen, sich von den vollautomatischen Servierwagen mit Drinks und Snacks versorgen lassen und sich halb amüsiert und halb gelangweilt die Sonne auf den Pelz scheinen lassen. Auch in Berlin hatte er seine Zeit zum größten Teil dazu genutzt mit seinen wenigen Freunden zu quatschen, irgendwelchen Affären nachzutrauern und Bier in sich hineinzuschütten. Allzu regelmäßig war ihm am Monatsende seine Rente knapp geworden, das Geld das er sich dann von seinen Eltern geliehen hatte, würde er nun wohl nicht mehr zurückzahlen. Das war nun schon der zweite Punkt, bei dem ihm das Thema Geld durch den Kopf ging. Vorher hatte er sich doch auch nie groß Gedanken um Geld gemacht, warum jetzt auf einmal? Vermutlich klammerte man sich einfach automatisch an die materiellen Dinge, wenn man dabei war alles zu verlieren. Vielleicht waren die Gedanken dazu leichter zu ertragen, als das Bewusstsein, was er allzu bald noch alles verlieren würde. War das möglich? Ergab das Sinn?
Zeit spielte da schon eher eine wirklich große Rolle. Aber wie hätte er seine Zeit in den letzten Jahren besser nutzen können, als mit Affären, Urlauben und Feiern? Er hatte nie Hobbys gefunden, die richtig zu ihm passen wollten, auch wenn er in seiner Kindheit und Jugend alles ausprobiert hatte, was ihm in den Sinn gekommen war. Im Keller seiner Eltern stapelten sich die Relikte, die daran erinnerten: Ein Billard-Kö, zwei Tischtennis-Schläger, eine Blockflöte, die kaum je zum Einsatz gekommen war, mehrere Anzüge für Judo und Karate, Bausätze für kleine Roboter, ein Fußball und mehrere Basketball-Leichen, denen schon lange niemand mehr Luft zugeführt hatte. Nichts davon hatte ihn mehr als ein paar Monate bei der Stange halten können.
Ein plötzlicher Hustenanfall überkam ihn und er griff nach einem Taschentuch, um das Blut nicht in der ganzen Küche zu verteilen. Nur mit Mühe schaffte er es, seine Atmung wieder zu beruhigen. Dieser verfluchte Husten, es tat jedes Mal so verflucht weh, als würde ihm jemand die Lunge aus dem Leib reißen. Wenn er lag war es meistens auszuhalten, doch sobald er aufstand, konnte er den Hustenreiz kaum unterdrücken. Er versuchte sich wieder zu konzentrieren, zwang sich, an den Gedanken anzuknüpfen, dem er gerade nachgegangen war.
Gut, Hobbys waren nicht sein Fall, was blieb sonst noch groß? Arbeit hätte es für ihn doch eh keine gegeben, und die richtige Frau hatte er bisher auch nicht kennengelernt. Ein paar schöne Frauen waren dabei gewesen, das musste er sich eingestehen, aber keine von ihnen wäre interessant genug gewesen, um mit ihr das Leben zu verbringen. Ein Leben, von dem ihm nun sowieso nichts mehr bleiben würde. Was das anging, war er auch froh, keine Kinder in die Welt gesetzt zu haben. Er konnte sich kaum etwas Schrecklicheres vorstellen, als seinen Kindern sagen zu müssen, dass man bald nicht mehr da sein würde, um ihnen beim Aufwachsen zu helfen. Letzten Endes war es also vielleicht gar nicht so schlecht, dass es ihn traf, wenn es schon überhaupt jemanden treffen musste. Es gab so viel Technik, alles wurde vollautomatisch durchgeführt, ständig wurde von irgendwelchen neuen Errungenschaften berichtet. Wieso gab es überhaupt noch Krankheiten? Seit Tagen gingen ihm so viele Gedanken durch den Kopf, und er hatte so wenig Antworten dazu.
Tief in Gedanken blickte er durch das miserabel geputzte Fenster hinaus in die Welt. Alles sah aus wie immer, jeder ging seinen Geschäften nach und versuchte, dem nebligen, trüben Wetter möglichst schnell wieder zu entfliehen. Im Kiosk gegenüber hämmerte ein älterer Mann entnervt auf den Knöpfen des Service-Automaten herum, vermutlich hatte er irgendeinen Fehler bei der Bedienung gemacht und machte sich jetzt nicht die Mühe, die Fehlermeldung auf dem Display zu lesen. Unwillkürlich musste Micha lächeln. In den letzten Tagen hatte ihn die Vorstellung so sehr beschäftigt und traurig gemacht, dass ihn hier kaum jemand vermissen würde. Ein paar Freunde, seine Familie, sonst niemand. Aber aus Gründen, die er nicht nachvollziehen konnte, versöhnte der Anblick des alten Mannes, der nun immer wütender auf die Knöpfe einprügelte, ihn ein Stück weit mit der Welt.
Vielleicht sollte er sich einen Plan zurechtlegen, wie er diesen Tag angehen würde, dachte er, noch immer mit einem Lächeln im Gesicht. Er würde es seinen Eltern erzählen, ihnen von der Diagnose und dem Termin erzählen, beschloss er, doch was konnte er danach tun? In Gedanken wanderte er seine Lieblingsplätze in der ganzen Stadt ab und entschloss sich dann, in den Zoo zu gehen. Dort war er lange nicht gewesen, aus Faulheit hauptsächlich, doch die Tiere würden ihm helfen, auf andere Gedanken zu kommen und es sich selbst leichter zu machen. Danach konnte er sich ja noch ein bisschen durch die Stadt treiben lassen, bis es an der Zeit war.
Einen Augenblick überlegte er, ob er hinuntergehen und dem alten Mann, der mittlerweile mit hochrotem Kopf den Automaten anbrüllte, helfen sollte, doch er entschied sich dagegen. Schließlich war heute ein besonderer Tag. Jetzt wo er es endlich aus dem Bett geschafft hatte, wollte er nicht noch mehr kostbare Zeit vergeuden.