Einen wunderschönen guten Abend,
es hat ein wenig länger gedauert, als ich gehofft habe, aber hier kommt nun der sechste Teil der Erzählung „Dem Ende entgegen“. Damit ist mehr als die Hälfte der elf Teile fertig. In ein paar Tagen berichte ich hier auch darüber, warum das so lange gedauert hat mit dem sechsten Teil, soeben ist nämlich mein neuer Gedichtband erschienen, aber wie gesagt, dazu gibt es in ein paar Tagen noch News. Ansonsten habe ich das Layout des Blogs ein bisschen verfeinert. In der Spalte rechts gibt es jetzt auch ein neues Feld, da kann man immer sehen, welches Buch ich gerade so lese.
Ich wünsche euch viel Spaß mit dem neuen Teil,
Mit den besten Grüßen,
Larry deVito
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Arno Wilhelm – Dem Ende entgegen – Download Kapitel 1 – 6
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Kapitel 6
Glücklicherweise war heute im Zoo nicht viel los. Die Warteschlange vor dem Tigerhaus ging nicht wie üblich bis hinter zu den Elefanten und Giraffen. Nur ein junges Pärchen mit Kind war noch vor ihm dran. Die würden bestimmt nicht allzu lange brauchen. Auch er war in jungen Jahren ein paar Mal mit seinen Eltern hier gewesen, doch damals war er noch zu klein, zu ängstlich und hatte überhaupt keinen Gefallen an den wilden Tieren gefunden. Der Junge vor ihm war vielleicht sieben oder acht Jahre alt, leckte an einem Eis und besah sich mit großen Augen die Welt um ihn herum. Seine Eltern schmiegten sich aneinander und unterhielten sich leise. Micha befiel ein Anflug von Wehmut um all die Dinge, die er noch hätte erleben können, wenn seine Diagnose anders ausgefallen wäre oder die Chancen auf Heilung besser stünden. Er würde nie eine eigene Familie haben, nie lernen was es bedeutete, Vater zu sein. Natürlich war auch nicht gesagt, dass er jemals das Gefühl, eine eigene Familie zu haben, kennengelernt hätte, selbst wenn ihm noch 50 Jahre oder mehr geblieben wären. In den letzten Jahren hatte er sich kaum um solche Dinge geschert. Er war sein eigener Lebensmittelpunkt gewesen und damit auch gut gefahren. Nur seit dem Tag im Krankenhaus, seit er wusste, wie bald es vorbei sein würde, hatte er immer und immer wieder das Gefühl, er hätte irgendetwas größeres, bedeutungsvolleres mit seinen Jahren tun müssen. Etwas, das nicht nur seinem eigenen, kurzfristigen Wohl diente. In die Forschung gehen und beruflich erfolgreich werden zum Beispiel oder eben privates Glück finden. Doch weder das Eine noch das Andere hatte in seiner Macht gestanden, was also hätte er schon groß anders machen können?
Vor dem Pärchen ging die Tür auf und zwei schlaksige Jungs, die Micha auf 16 oder 17 schätzte, kamen aus dem Tigerhaus geschlurft. Beide wirkten aufgedreht und begeistert.
„War das geil“, sagte einer von beiden gerade, als sie an Micha vorbeikamen. „Müssen wir morgen gleich wieder machen.“
Sein Kumpel nickte nur grinsend und strich sich die fettigen, langen Haare aus dem Gesicht. Micha dachte an die ersten Male, die er allein oder mit Freunden hier gewesen war. Die zitternden Hände, die Aufregung. Das war toll gewesen. Mittlerweile war es halb Nostalgie, halb Bewunderung für die Anmut der Tiere, die ihn regelmäßig in den Zoo brachte. Angst oder Aufregung verspürte er dabei kaum noch. Vor ihm hob der junge Familienvater seinen Sohn hoch und folgte seiner Frau in die Schleuse. Die Türen schlossen sich und Micha bildete nun ganz allein die Warteschlange.
Es dauerte nur wenige Minuten, bis die drei wieder da waren, ganz wie Micha es vermutet hatte. Der kleine Junge schrie und weinte während seine Eltern sich alle Mühe gaben, ihn zu beruhigen. Wahrscheinlich hatten sie gedacht, sie würden ihm eine Freude bereiten, in dem sie ihm diese anmutigen Tiere zeigten. Das Gesicht des Kindes zeigte nur Angst, wenn überhaupt, würde erst in ein paar Stunden ein wenig Begeisterung einsetzen. Bestimmt kauften sie ihm jetzt auf den Schreck ein Eis, oder eine andere Süßigkeit. Die meisten Kinder waren so leicht zu abzulenken. Schade, dass man das auf dem Weg ins Erwachsenenalter irgendwann verlor, dachte Micha, mit einem Gedanken daran, wie er die letzten Tage verbracht hatte, als er nun selbst die paar Schritte durch die Türen ging und den roten Knopf drückte, damit die Schleuse sich schloss. Die Türen zum Inneren des Tigerhauses öffneten sich und er trat ein.
Er befand sich in einer großen Hütte, deren Inneres rundum mit Holz verkleidet war. Nur von außen war das Metall zu sehen, das die Außenwände aus Sicherheitsgründen umgab. Der Boden war aus Stein und übersät mit Dreck, der aussah wie eine Mischung aus Essensüberresten und Exkrementen. Eine Ecke war mit Stroh ausgepolstert, ansonsten wirkte der Raum vollkommen karg. Die riesige Klappe durch die die Tiere im Sommer in ihr großes Gehege konnten, war heute verschlossen. Hier war die Luft viel stickiger als draußen. Der Geruch der Tiere war markant und mit nichts vergleichbar, das Micha je an einem anderen Ort gerochen hatte. Insgesamt gab es hier im Zoo vier Tiger. Am Hals und an allen vier Pfoten trug jeder von ihnen dünne, silberne Metallbänder, die mit hochentwickelten Mikrochips und jeder Menge anderer Technik bestückt waren, die Micha nicht verstand.
Das einzige Tigerweibchen lag heute schlafend in der Ecke mit dem Stroh, sie schien sich an dem Weinen des kleinen Jungen vor wenigen Minuten nicht gestört zu haben. Die drei Männchen liefen unruhig vor ihr auf und ab, bisher hatten sie Micha noch nicht wahrgenommen. Es war jedes Mal aufs Neue unglaublich, wie grazil und katzenartig sie ihre schweren Körper bewegten. Langsam, ruhig und bedrohlich. Unter ihrem orangen Fell mit den schwarzen Streifen konnte er sehen, wie die Muskeln sich bewegten. Er spürte wie sein Herz schneller schlug. Vorsichtig machte Micha ein paar Schritte in ihre Richtung. Eines der Tiere hatte ihn bemerkt und kam langsam auf ihn zu, ohne den Blick auch nur für eine Sekunde abzuwenden. Zwischen ihnen war kein Gitter, kein massives Glas, nicht mal eine Bretterwand, die den Tiger von Micha fernhielt. Kein Wunder, dass Kinder die Faszination dieser Situation noch nicht verstehen konnten. Instinktiv spannte sich jeder Muskel im Körper an und es gehörte viel Überwindung dazu, die instinktive Fluchtreaktion zu unterdrücken.
Von den anderen Tigern hatte sich keiner für ihn interessiert. Vermutlich war derjenige, der auf ihn zukam, so eine Art Chef unter ihnen, aber obwohl er schon so oft hier gewesen war, wusste Micha nicht genug von Tigern, als dass er sich damit sicher gewesen wäre. Nur wenige Zentimeter vor ihm blieb der Tiger stehen. Micha streckte seine Hand aus, doch der Tiger machte sich nicht die Mühe seinen massiven Kiefer danach auszustrecken sondern roch nur an dem Neuankömmling. Er wusste, was Micha wusste.
Auch wenn es an sichtbaren Barrieren mangelte, konnte er ihn doch nicht erreichen, zumindest nicht mit dem Kiefer und auch nicht mit den Tatzen. Dafür sorgten die kleinen Metallbänder. Von ihnen ging irgendeine Art von Feld aus, die sie auf Distanz hielt. Es fühlte sich an, als würde man eine sehr warme, hauchdünne Oberfläche aus Glas berühren, unter der so viel Strom entlang floss, dass es sich anfühlte, als würde sie ständig leicht pulsieren. Man konnte sie nicht sehen und bekam auch keinen Stromschlag, doch es war unmöglich hindurch zu fassen.
Langsam beruhigte sich sein Puls wieder und er begann, dem Tiger über das Fell zu streichen. So etwas ließen sich nur Tiger gefallen, die schon sehr lange hier im Zoo waren. Die jüngeren versuchten meistens in die Hand zu beißen oder liefen weg. Manchmal wurden Tiere frisch gefangen und kamen dann hierher, die sprangen die Besucher auch schon mal an, mussten aber auch irgendwann einsehen, dass sie nicht gewinnen konnten, ohne ihre Tatzen und ihr Gebiss zu benutzen. Die Besucher kamen immer mit dem Schrecken und dem ein oder anderen blauen Fleck davon. Wie wohl die Roboter aussahen, die dafür zuständig waren, wilde Tiere für die Zoos einzufangen, fragte sich Micha. Es gab so viel, über das er noch nie nachgedacht hatte und nun würden alle Fragen unbeantwortet bleiben. Er versuchte, sich den Geruch dieses Ortes tief einzuprägen, während er immer noch das weiche Fell des Tigers berührte.
In diesem Augenblick stieg ohne Vorwarnung seines Körpers ein starker Hustenreiz in ihm auf, so dass er es nicht mehr rechtzeitig schaffte, sich die Hand vor den Mund zu halten. Er hustete lautstark und sprenkelte das Fell des Tigers mit winzigen Blutstropfen. Alle Tiere im Raum hatten mitten in ihren Bewegungen innegehalten und blickten zu ihm, selbst das Tigerweibchen in der Ecke war aufgewacht und hatte den Kopf gehoben, während Micha sich vor Schmerzen beim Husten krümmte und wand, den Arm auf seinen Oberkörper gepresst. Wie in einem Western, wenn man den Saloon betritt, dachte Micha. Die vier Tiere starrten ihn bewegungslos an, es fehlte nur der Pianist, der aufhörte zu spielen und vielleicht ein Ballen Heu, der irgendwo durchs Bild flog. Das kurze, gepresste Lachen, machte den Husten nur noch schmerzhafter. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Mit kleinen Schritten lief er zur Schleuse, die sich um ihn herum schloss und dann den Weg nach draußen freigab. Krampfhaft versuchte er möglichst ruhig zu atmen und brachte den Husten an der frischen Luft wieder unter Kontrolle.
Eine Gruppe Mädchen, vielleicht sieben oder acht, die nicht älter als 14 sein konnten, drängelte und schob sich an ihm vorbei, während er langsam den Eingangsbereich des Tigerhauses verließ. Niemand achtete auf ihn. Wahrscheinlich würden sie sich ein bisschen erschrecken, falls sie die Blutstropfen auf dem Fell des Tigers sahen. Micha hielt sich immer noch Bauch und Brustkorb, aber langsam beruhigte er sich wieder.
Nun gut, dachte er, die Erinnerung an seinen letzten Besuch hier hatte er sich schöner erhofft, aber er würde nicht noch einmal da hineingehen. Die schlechte Luft tat seinen kaputten Lungen alles andere als gut. Mühsam versuchte er sich zusammenzureißen und ging in Richtung des kleinen Cafés, in dem er nach den meisten seiner Besuche hier noch ein Bier getrunken hatte. Er überquerte den großen geteerten Platz, der die verschiedenen Teile des Zoos miteinander verband. Hier standen grell bunte Automaten, an denen man sich und seine Kinder mit Süßigkeiten versorgen konnte. Auf der anderen Seite des Platzes war das Café. Ein runder Raum, innen und außen quietschgelb gestrichen, bestückt mit kleinen Stühlen und Tischen. Außer ihm war heute niemand hier. Micha war froh, endlich eine Sitzgelegenheit zu haben. An einem kleinen, alten Servierautomaten drückte er den Knopf für ein großes Wasser, legte seinen Daumen zum bezahlen auf den Sensor und nach wenigen Sekunden öffnete sich eine Klappe, so dass er die Wasserflasche heraus nehmen konnte. Dazu angelte er sich noch eins der Briefpapiere, das mit dem Briefkopf des Zoos bedruckt war. Solches Briefpapier und Ansichtskarten mit allen möglichen Tieren darauf gab es hier zuhauf. Es war umsonst, wahrscheinlich weil es gute Werbung für den Zoo war.
Seufzend ließ er sich an einem der Tische nieder und trank die erste Hälfte der Wasserflasche in einem Zug aus. Den Entschluss, seinen Eltern einen Brief zu schreiben, hatte er bereits zuhause gefasst. Er musste es ihnen noch irgendwie mitteilen, sie durften es nicht erst erfahren, wenn schon alles vorbei war. Die Idee, den Brief gleich hier zu schreiben, war ihm dann auf dem Weg hierher gekommen. Nach einem letzten, beruhigenden Besuch bei den Tigern, würde es leichter von der Hand gehen, hatte er gedacht. So viel zu übersteigerten Erwartungen. Seufzend nahm er einen Stift vom Tisch und begann zu schreiben.
Hallo ihr Lieben,
entschuldigt, dass ich es euch nicht persönlich gesagt habe, aber was ich euch mitteilen muss
Micha hielt inne, zögerte, dann zerknüllte er den Zettel, warf ihn in den Mülleimer und holte sich ein neues Briefpapier, um von vorne zu beginnen. Schon die Anrede passte nicht. Wie brachte man etwas so gewaltiges auf Papier? Wie konnte er das mit der Diagnose erzählen? Erklären, warum er ihnen bisher nichts gesagt hatte? Was waren die richtigen Worte dafür? Sollte er ihnen sagen, was genau er vorhatte? Er spürte, wie Tränen seine Wangen hinunterliefen. Einige Minuten saß er einfach nur da und dachte nach, tief versunken in seinen Gedanken.
Dann begann er erneut zu schreiben.