Guten Tag allerseits,
ich vermute, mit der Geschichte wird es noch diese Woche zuende gehen. Kommen wir also zum vorletzten Teil von „Dem Ende entgegen“.
Ich hoffe er wird euch gefallen und wer Zeit hat, kommt morgen Abend zum Dichtungsring im Laika in Berlin.
Viele herzlichste Grüße
Larry deVito
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Arno Wilhelm – Dem Ende entgegen – Download Kapitel 1 – 10
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Kapitel 10
Als die Tür ins Schloss fiel lehnte Micha sich in seinem Stuhl zurück. Als Teenager war er oft mit Freunden und Bekannten im Urlaub zum Klippenspringen gegangen. Das Gefühl, am Rand einer sehr hohen Klippe zu stehen und nach unten ins Wasser zu blicken, ähnelte dem, was er im Augenblick empfand, sehr. Er wusste, er würde den letzten Schritt tun, doch noch rang er mit sich selbst, um den richtigen Zeitpunkt zu finden. Was für eine seltsame Unterhaltung das eben gewesen war, dachte er. Sein Gefühl sagte ihm, dass er mit seiner Ansprache irgendwas in Tim bewirkt hatte. Ob das reichen würde, um ihn von dem Grund, aus dem er hier war, abzubringen? Sicher war er sich nicht, doch zu wissen, dass er versucht hatte, jemandem vor einem so großen Fehler zu bewahren, gab ihm ein gutes Gefühl. Vielleicht war das der Sinn, nachdem er in den vergangenen Tagen gesucht hatte. Auf seinem letzten Weg jemand anderem zu helfen, damit dieser seinen Weg änderte. Er würde nie erfahren, ob er etwas bewirkt hatte.
Es war ein angenehmer Zufall gewesen, dass sie sich hier ein zweites Mal über den Weg gelaufen waren. Seit seiner Diagnose hatte er mit niemandem darüber geredet. Es Tim zu erzählen hatte ihn erleichtert und ihm ein wenig seine Angst genommen. Auch Frau Nolte, die alte Frau im Sprechzimmer, hatte sehr verständnisvoll gewirkt. Das Gespräch mit ihr war angenehm gewesen. Ohne Vorwürfe, ohne Zeitdruck oder Smalltalk.
Er musste an seine Eltern denken. Hätten sie vielleicht auch so reagiert, wenn er es ihnen doch selbst gesagt hätte? Wann seine Mutter wohl den Brief fand? Hoffentlich erlitt sie davon keinen Herzinfarkt, das wäre furchtbar. Sein Vater hätte alleine keine Chance, der bekam sein Leben ohne seine Frau nicht auf die Reihe. Genau genommen wusste er nach all den Jahren in dem Haus bis heute nicht einmal, wo seine Socken zu finden waren. Beim Gedanken daran, dass seinen Eltern wegen ihm etwas zustoßen könnte, spannte sich Michas ganzer Körper an.
Er spürte, als sich seine Hände verkrampften, dass seine rechte Hand etwas umklammerte. Als er hinab sah, bemerkte er, dass er immer noch Tims silberne Münze in der Hand hielt. Er hatte vergessen, sie ihm zurückzugeben, nachdem er sie in Augenschein genommen hatte. Auf beiden Seiten waren Menschen im Profil eingraviert. Bei der einen Seite vermutete er, dass es sich um einen deutlich jüngeren Tim handelte. Dann musste das auf der anderen Seite seine Frau sein. Im Profil konnte Micha nicht genug erkennen, um sagen zu können, ob sie eine hübsche Frau gewesen war. Es musste ein tolles Gefühl sein, einen Menschen so sehr zu lieben.
Am Rand der Münze stand ein Datum und in feinen, winzigen Buchstaben war „T.F. & H.F.“ eingraviert. Tim und H. Fischer. Wofür das H wohl stand? Er spürte ein wenig Neid gegenüber Tim, für die vielen Jahre, die er gehabt hatte und vielleicht noch haben würde. Neid auf all das, was Tim mit seiner Frau erlebt hatte. Ob sie sich wohl Kinder gewünscht hatten? Vermutlich gab es keine, sonst hätte Tim sicher noch mehr Gründe gehabt, weiterzuleben, auch nach dem Tod seiner Frau. Er wirkte nicht wie der Typ, der seine Kinder im Stich ließ. Er hatte nur sehr unglücklich gewirkt und von Trauer und Schlafmangel zermürbt. Hoffentlich änderte er seinen Plan noch.
Micha gab sich alle Mühe, den immer wieder aufkommenden Hustenreiz zu unterdrücken. Mittlerweile brannten seine Lungen bei jedem einzelnen Atemzug wie Feuer. Gut, dass er heute einen Termin bekommen hatte und nicht erst in ein paar Tagen. Möglicherweise hätte er dann schon nicht mehr die Kraft dafür gehabt. Die Kraft für das, was jetzt zu tun war.
Er raffte sich auf, legte die Münze auf einen Stuhl neben sich, stand auf und ging zur schwarzen Tür am Ende des Zimmers. Zuerst legte er die Hand auf die Klinke und spürte das kalte Metall. Er drückte sie langsam herunter und öffnete den Durchgang zu einem kleinen, von einer Lampe an der Decke schwach mit orangem Licht ausgeleuchteten Raum. Die Einrichtung nahm er nur schemenhaft wahr. Das weiße Licht des Wartezimmers bildete zur Dunkelheit dieses Raumes einen starken Kontrast. Als er eintrat fiel die Tür hinter ihm von alleine ins Schloss. Sein Herz begann wieder schneller zu pochen. Ein neuer Hustenanfall brach sich Bahn und zwang Micha für einen kurzen Moment in die Knie, doch dieses Mal ging es schnell vorbei. Als er sich wieder aufrichtete, hatten sich seine Augen gut genug an das Licht gewöhnt, dass er die Einrichtung des Raumes genauer erkennen konnte. An den Wänden hingen große Leinwände, größer als die im Wartezimmer, die verschiedene Landschaftsaufnahmen zeigten. An einer Zimmerseite konnte Micha Bilder vom Grand Canyon erkennen, an dessen Rand war er letztes Jahr noch selbst gestanden. Die anderen Wände waren mit Strand- und Dschungelphotos behangen. In der Mitte des Raumes stand ein weißer, gepolsterter Stuhl mit breiten Armlehnen. Auf der rechten Seite waren am Ende der Armlehne zwei kleine Knöpfe angebracht, genau wie es Frau Nolte ihm beschrieben hatte. Micha atmete tief durch. Der Gedanke, dass er gleich sterben würde, war so unwirklich, so schwer zu verstehen. Ein Knopfdruck und er setzte seinem Leben ein Ende. In der Schule hatte man ihnen in Geschichte von Piloten erzählt, die im Krieg Kampfflugzeuge geflogen hatten, daran konnte sich Micha noch gut erinnern. Hatte er nicht sogar ein Referat darüber gehalten? Diese Piloten hatten ebenfalls kleine Knöpfe gehabt, um Raketen oder Bomben abzufeuern. Auch sie hatten per Knopfdruck über Leben und Tod entschieden, genau wie er es gleich tun würde. Nur war es bei ihnen nicht darum gegangen, über ihr eigenes Leben zu entscheiden, sondern über das irgendwelcher anonymer Opfer. So ähnlich und doch so unterschiedlich. Was es wohl für ein Gefühl gewesen war, etwas so furchtbares per Knopfdruck zu tun? Wenigstens hatte er einen guten Grund für das was er tat und es kam niemand anderer dabei zu Schaden.
Micha setzte sich hin und krempelte seine Hosenbeine ein Stück hoch, genau wie Frau Nolte es ihm erklärt hatte. Dann lehnte er sich in dem Sessel zurück. Der weiße Bezug schien aus einer Art Fell zu sein, er war sehr weich und bequem. Er ließ seine rechte Hand über den beiden Knöpfen schweben, nur wenige Zentimeter davon entfernt, die letzte Entscheidung seines Lebens zu treffen.
Den ganzen Tag über hatte Micha Angst vor diesem Moment gehabt. Angst davor, dass er es nicht schaffen würde, Angst zu versagen. Selbst bei dem Letzten was er auf Erden tun wollte, bei der selbstbestimmten Wahl, seinem Leben ein Ende zu setzen, nicht seinen Erwartungen gerecht zu werden. Frau Nolte hatte nur genickt, als er ihr das gesagt hatte und ihn mit ihrem von Falten durchzogenen Gesicht ernst angesehen.
„Sie müssen hier niemandem etwas beweisen“, hatte sie gesagt. „Das ist keine Prüfung, keiner hat Erwartungen, die sie erfüllen müssen.“
Doch was ihm tatsächlich Ruhe gebracht hatte, war das Gespräch mit Tim gewesen. Zu sehen, wie er auf die Nachricht reagierte, dass Micha Krebs hatte, und zu hören, aus was für banaleren Gründen jemand das Bedürfnis haben konnte, zu sterben. Und weil er das Gefühl hatte, Tim geholfen zu haben. Vielleicht hatte er es geschafft, seine Perspektive ein Stück gerade zu rücken. Egal wie schlimm der Verlust für Tim war, er war gesund und konnte für den Rest seiner Tage das Andenken an seine Frau wahren, ohne dass er deswegen selbst seine restliche Zeit auf Erden wegschmeißen musste.
Micha ließ seine Hand noch immer in der Luft über den zwei Knöpfen. Alles in allem war es doch ein guter Tag gewesen. Besser als erwartet. Besser, als es sich zwischendurch angefühlt hatte. Er musste an seine Eltern denken. Hoffentlich würden sie es gut verkraften, was mit ihrem einzigen Sohn geschehen war. Er hatte gehört, wenn jemand starb, bekam man von einem Androiden einen schwarzen Briefumschlag mit der Todesnachricht überbracht. Das war bestimmt ein Mythos. Einer von vielen.
Er betrachtete die Knöpfe. Einer von ihnen war grün, der andere rot. Langsam, mit ganz vorsichtigen Bewegungen, um keinen weiteren Hustenanfall zu provozieren setzte sich Micha aufrecht hin, legte seine Arme flach auf die Lehnen und atmete tief durch. Es wurde Zeit zu springen. Wie sich wohl dieses Mal das Meer anfühlen würde, wenn er durch die Oberfläche brach?
Beim Gedanken an die Sommer seiner Jugend lächelte er.
Er hielt den Atem an und ließ den Zeigefinger seiner rechten Hand langsam aber bestimmt auf den kleinen, roten Knopf sinken.