Dem Ende entgegen (8)

Einen wunderschönen guten Morgen allerseits,

nun nähern wir uns langsam dem Ende der Geschichte „Dem Ende entgegen“.
Ich wünsche viel Spaß mit Teil 8 von 11,

Viele Grüße
Larry deVito

Arno Wilhelm – Dem Ende entgegen – Download Kapitel 1 – 8

Kapitel 8

Seit einer Viertelstunde stand Micha nun schon vor dem Haus seiner Eltern und trat von einem Bein auf das andere. Warum ging er nicht einfach weiter? Oder warf den Brief endlich ein? Es hatte eine halbe Ewigkeit gedauert, bis er mit den paar Zeilen soweit zufrieden gewesen war, dass er sich vom Zoo aus auf den Weg hierher gemacht hatte. Doch jetzt stand er einfach nur da und traute sich nicht vom Fleck. Hatte er erwartet, seine Eltern würden ihn sehen und herauskommen? Vielleicht hatte er das insgeheim, sicher war er sich nicht. Die Chancen dafür standen schlecht. Als Bewohner eines Hauses, das zur einen Seite einen ausgedehnten, wunderschönen Park und zur anderen Seite eine kaum benutzte Seitenstraße Berlins als Aussicht hatte, neigten sie nicht dazu, ihre Tage damit zu verbringen, auf der Straßenseite aus dem Fenster zu sehen. Er konnte auch einfach klingeln. Was sie wohl sagen würden? Vermutlich würden sie entsetzt sein über seine Diagnose und schockiert über seinen Plan, vollkommen von den Neuigkeiten überfordert. Wahrscheinlich würde seine Mutter sich nur unnötig aufregen und sein Vater würde teilnahmslos wie immer in seinem Schaukelstuhl sitzen und seinen Käsekuchen essen. Die beiden waren emotional keine Stütze in schwierigen Zeiten. Er wollte es ihnen einfach nicht selbst erzählen, es widerstrebe ihm. Ein neuer Hustenanfall zwang Micha dazu, sich die Hand auf den schmerzenden Bauch zu pressen, um besser Husten zu können. Als er wieder ruhiger atmen konnte, besah er sich den Brief in seiner Hand. Zum Glück hatte der keinen Schaden genommen, nur der Gehweg schien ein paar Blutstropfen abbekommen zu haben. Es schien schlimmer zu werden. Wahrscheinlich war das die Aufregung und Angst vor dem Abend, die ihn dazu brachte noch mehr zu husten als in den letzten Tagen. Dazu kam, dass von der dauernden Husterei die Bauchmuskeln und seine Lungen vollkommen überstrapaziert waren und beide immer empfindlicher wurden.
Micha gab sich Mühe, ruhig zu atmen und beschloss, der Warterei ein Ende zu machen. Ein letztes Mal würde er den Brief noch lesen, ihn dann in den Briefkasten werfen und seiner Wege gehen. Es hatte keinen Zweck mit ihnen zu reden, also war es das Beste, es auch zu lassen. Er klappte den Brief auf.

Hallo Mama, Hallo Papa,
es tut mir ehrlich leid, dass ihr es auf diese Weise erfahrt, aber ich konnte es euch nicht selber sagen. Ich habe es nicht übers Herz gebracht. Schon seit ein paar Monaten habe ich Schmerzen und fühle mich nicht wohl. Letzte Woche war ich deswegen in einer Klinik und habe erfahren, dass ich Krebs in einem sehr späten Stadium habe, der nicht mehr heilbar ist. Ich habe kein Bedürfnis, die nächsten Monate dahinzusiechen, wenn eh keine Chance auf Besserung besteht, deswegen will ich dem Ganzen ein Ende setzen. Ich hatte ein schönes Leben und ich bin froh, dass ich so liebe und verständnisvolle Eltern wie euch hatte. Bitte verzeiht mir, dass ich euch nichts gesagt habe.
Ich liebe euch beide

Micha

Mit feuchten Augen faltete er den Brief wieder zusammen, warf ihn in den Briefkasten und drehte sich weg. So schnell es seine Lungen zuließen entfernte er sich vom Haus seiner Kindheit, von seinen Eltern, von den einzigen Menschen auf der Welt, die ihm etwas bedeuteten. Ursprünglich hatte er gehofft, der Tag würde ihm noch ein paar angenehme, letzte Erinnerungen bringen, im Moment spürte er davon leider nichts. Er versuchte, nicht zu weinen. Angst und Trauer zogen in seinem Kopf ihre Kreise. Noch konnte er den Termin auch absagen, einfach wieder nach Hause gehen und so tun, als wäre alles gut. Ein paar Tage würde das noch gut gehen, wenn es mit seiner Gesundheit im selben Tempo bergab ginge, wie bisher. Aber was dann? Die Schmerzen waren schon jetzt kaum auszuhalten, jeder Atemzug fühlte sich an, als ob tausende kleine Nadeln seine Lungen attackieren würden. Es war wichtig, dass er sich zusammenriss. Er bog in die Chomskyallee ein, von dort aus war es nicht mehr weit bis zur Praxis. Halb acht sollte er dort sein, pünktlich halb acht, hatte die Stimme am Telefon gesagt.
Nächtliche Dunkelheit hatte sich über Berlin gelegt und Micha fror ein wenig in seiner dünnen Jacke. Je kälter die Luft wurde, umso unangenehmer wurde sie in den Lungen. Endlich erreichte er die Kreuzung zur Turingstraße und konnte einen ersten Blick auf das weiße Haus erhaschen, in dem die sich die Praxis des PSH befand, die am nächsten an seiner Wohnung lag. Der Praxisverbund für Sterbehilfe e.V. hatte laut seiner Homepage, die Micha in den letzten Tagen gründlich durchforstet hatte, 8 Praxen in Berlin und fast 100 in ganz Deutschland. Sie befassten sich laut eigener Aussage damit, denjenigen, die das wünschten, „ein würdevolles Ende zu ermöglichen“.
Das Haus auf das er jetzt zulief kannte er schon von Bildern. Es war ein flacher, einstöckiger Bau, dessen Fenster verspiegelt waren, um keine Blicke nach drinnen zuzulassen. Vor der weißen Eingangstür blieb Micha stehen. Die Aufregung nahm weiter zu. Sein laut pochendes Herz konnte man vermutlich trotz der geschlossenen Tür im ganzen Haus hören. Wieder brach dieser schmerzhafte, nicht enden wollende Husten aus ihm hervor. Dicke, dunkelrote Blutstropfen flogen auf das Weiß der Eingangstür. Micha ließ sich für einen Moment auf die Knie sinken, seine Kraft reichte heute nicht mehr, um den Husten auszuhalten und gleichzeitig noch sein Körpergewicht zu tragen. Als der Husten wieder abebbte, hatten seine Lungen begonnen, bei jedem Ausatmen eine Art Pfeifton von sich zu geben. Er traute sich nicht mehr, tief einzuatmen. Es tat zu sehr weh.
Mühsam erhob er sich wieder, stützte sich an der Tür ab und betrachtete sie. Auf ihr war das Logo des PSH angebracht: Ein Kreuz und daneben eine Schlange, die sich um einen Stock wand. Letzteres hatte er schon bei manchen Krankenhäusern im Logo gesehen. Die beiden Zeichen zusammen sollten die Verbindung von Leben und Tod symbolisieren. Auch das hatte Micha die Homepage des PSH verraten. Nun war der Kopf der Schlange allerdings durch einige Blutspritzer befleckt. Micha suchte seine Taschen nach einem Tempo ab. Nach erfolgloser Suche wischte er das Blut einfach mit dem Ärmel seiner Jacke weg, was überraschend gut funktionierte. Jetzt sah zwar der Ärmel nicht mehr besonders gepflegt aus, aber da wo er jetzt hinging, würde das hoffentlich keine Rolle mehr spielen.
Langsam schob er die Tür auf und trat hindurch, hinein in das weiße Vorzimmer der Praxis. Alles hier war weiß. Die Wände, der Boden, der kleine Brunnen in der Ecke, selbst die Steine im Brunnen waren weiß. An einer Seite stand ein großer Aufsteller mit Flyern des PSH. Die Fenster, die von außen keine Blicke hereinließen und aussahen, wie überdimensionierte Spiegel, waren von der Innenseite durchsichtig. Man konnte von diesem Vorraum aus die Straße überblicken, ohne selbst gesehen zu werden. Eine gute Idee, dachte Micha, für den Fall, dass jemand wieder gehen wollte, ohne gesehen zu werden. Er unterdrückte das Bedürfnis eben das zu tun. Vor Aufregung waren seine Hände schweißnass.
Der Eingangstür gegenüber befand sich eine Tür, auf der ein Schild angebracht war. Darauf stand in großen Lettern „Wartezimmer“ und darunter in klein waren die Worte „Bitte treten Sie ein“ zu lesen. Micha sah auf die Uhr. Es war 19.33 Uhr, er war fast pünktlich. Er ging schnurstracks durch das Zimmer, bedacht, nicht zu husten, um keine roten Tupfer in dem strahlenden Weiß des Raumes zu hinterlassen. Das Wartezimmer war menschenleer und fast identisch mit dem Raum zuvor, nur dass hier links und rechts je drei weiße Stühle standen. Über jeder der Stuhlreihen hing ein Gemälde, eine Ansammlung von weißen und schwarzen Kreisen und Rechtecken.
Am Ende des Zimmers befanden sich zwei Türen. Die Linke war weiß und die Rechte schwarz. Ein paar Sekunden blickte Micha umher, doch er fand an keiner der beiden irgendeine Beschriftung. Gerade wollte er sich auf einem der Stühle niederlassen, da ging die weiße Tür auf und eine Stimme rief „Michael Ferdinand Dorfer“. Irgendetwas war merkwürdig an dieser Stimme, aber was war es?
Er ging durch die Tür und fand sich in einem kleinen Büro wieder. Dort stand eine ältere Dame mit fast vollkommen weißen Haaren. Sie konnte nicht größer als einen Meter sechzig sein. Ihr Alter konnte Micha nicht schätzen, aber die vielen Falten und der leicht gebeugte Rücken ließen ihn vermuten, dass sie schon deutlich mehr Winter gesehen hatte als er. Es war selten, dass man jemanden sah, der wirklich viele Falten hatte. Unwillkürlich musste er an den Mann in der U-Bahn denken, der die ganze Zeit mit der Münze in seiner Hand gespielt hatte. Auch der hatte ungewöhnlich viele Falten gehabt. Zwei Akademiker an einem Tag zu sehen, wenn das mal kein seltsamer Zufall war.
Jetzt wurde ihm auch klar, was er an der Stimme so seltsam gefunden hatte, als er sie gerade gehört hatte. Es war eine menschliche Stimme gewesen, nicht eine der Computerstimmen, wie er sie gewohnt war.
Die Frau lächelte ihn zaghaft an und streckte ihm die Hand hin.
„Herr Dorfer?“
Micha nickte.
„Herzlich Willkommen beim PSH, meine Name ist Ingeborg Nolte.“ Micha schüttelte ihr die Hand und sie wies ihn mit einer Geste an, auf dem Stuhl Platz zu nehmen, der vor ihrem breiten, weißen Schreibtisch stand.
„Wenn Ihnen das Recht ist, würde ich zuerst einmal gerne etwas über ihre Beweggründe erfahren, diesen Schritt zu gehen. Sie können ganz frei erzählen. Danach werde ich Ihnen dann ein bisschen was über die Geschichte des PSH erzählen, Ihnen erklären was wir machen und wie der heutige Abend ablaufen wird, gesetzt den Fall, dass sie bei der Entscheidung bleiben.“
Frau Nolte hatte nun hinter ihrem Schreibtisch Platz genommen. Vor ihr lag ein Kuli und ein kleiner Notizblock, auf dem Michas Name stand. Nach wie vor trug ihr Gesicht dieses milde, zurückhaltende Lächeln, das Micha als eine Mischung aus Interesse und Fürsorge verstand.
„Erzählen Sie bitte ein bisschen was von sich. Warum haben Sie sich entschieden, diesen Weg zu wählen?“
Micha lehnte sich zurück, atmete so tief durch wie es ihm noch möglich war und fing an zu erzählen.

Dem Ende entgegen (7)

Einen wunderschönen guten Tag,

es geht weiter mit Teil 7 der Geschichte „Dem Ende entgegen“. Ich freue mich sehr über Feedback,

Fühlt euch gegrüßt

Larry deVito

Arno Wilhelm – Dem Ende entgegen – Download Kapitel 1 – 7

Kapitel 7

Es war kaum zu glauben, wie schön sie aussah. Pure Perfektion. Tim strich mit den Fingern über das Foto und versuchte, sich an den Moment der Aufnahme zu erinnern. Das Bild war jetzt ungefähr ein Jahr alt. Er hatte es in seinem letzten gemeinsamen Urlaub mit Helena gemacht, an einem wunderschönen Strand auf Bali. Darauf saß sie am Rand einer kleinen, brüchigen Steinmauer, hinter ihr das Meer und der helle, feinkörnige Sandstrand. Das tiefrote, enge Kleid betonte ihren schlanken Körper, die braunen Haare wurden vom Wind leicht zur Seite geweht und sie lächelte verführerisch. Aber wo genau war das Bild entstanden? Schon jetzt begannen seine Erinnerungen zu verschwimmen.
Vor dem Urlaub hatte es ein paar kleine Streitereien gegeben, dass er ihr zu wenig seiner Zeit widmete, sie kaum noch was miteinander erleben würden, deswegen hatten sie ja letzten Endes überhaupt Urlaub gemacht. Aber womit hatten sie sich in den zwei Wochen die Zeit vertrieben? Er konnte sich an die Strände erinnern, an eine alte verfallene Kirche und grob an ihre Unterkunft in einem frisch renovierten, nobel eingerichteten Hotel direkt am Strand. Aber die Namen und passenden Bilder der Orte und Sehenswürdigkeiten, denen sie einen Besuch abgestattet hatten, waren wie ausgelöscht. Was er noch wusste, war, dass sie in einer Stadt namens Denpasar gelandet waren und dort auch ihre erste Nacht verbracht hatten. Das Foto vor ihm musste später entstanden sein, am ersten Tag waren sie nur ganz kurz am Strand gewesen. Tim blätterte eine Seite des dicken Fotoalbums um. Es war schon sehr alt und abgewetzt, vollgestopft mit Fotos von seiner frühesten Kindheit und Jugend bis heute. Er und Helena hatten sich gerade in den ersten Jahren ihrer Ehe viel Mühe mit den verschiedenen Kapiteln gemacht, alle neuen Fotos gedruckt, eingeklebt und beschriftet, die es wert gewesen waren. Ein richtiges Fotoalbum war schon etwas anderes als die digitalen Bilderrahmen, auf denen die Fotos einfach nur durchliefen. Tim hätte auch immer gerne eins der kleinen farbigen Hologramme von sich und Helena gehabt, die man in jeder größeren Stadt anfertigen lassen konnte, aber wegen der hohen Kosten hatten sie es immer wieder vor sich her geschoben. Nun war es zu spät. Helena war weg. Für immer.
Heute waren es auf den Tag genau drei Wochen, seit er es erfahren hatte. Der Gedanke an diesen Moment ließ den Schmerz des Augenblicks jedes Mal aufs Neue in ihm aufsteigen. Es hatte ihn eine Menge Kraft gekostet, nicht auf der Stelle vollkommen den Verstand zu verlieren. Vielleicht hatte er auch ein Stück weit den Verstand verloren, in manchen Momenten der vergangenen drei Wochen war er sich seiner geistigen Gesundheit nicht zu hundert Prozent sicher gewesen.
Die Türklingel hatte ihn aus seinen Gedanken gerissen, als er am Morgen nach der Trennung und Helenas plötzlichem Auszug gerade in der Küche versucht hatte, seinen Kater in den Griff zu bekommen. Nach einer unruhigen Nacht und so viel Alkohol waren zwei Stunden, bis er im Anzug vor ein paar hundert Studenten zu stehen und interessant und möglichst gut gelaunt Wissen zu vermitteln hatte, zwar knapp bemessen, aber auch kein Ding der Unmöglichkeit. Er hatte sein Frühstück aus der Hand gelegt und war mit hämmerndem Schädel zur Tür gelaufen.
Dort stand ein humanoider Roboter, ein Mann der fast ebenso groß war wie Tim, mit einem ausdruckslosen, ernsten Gesichtsausdruck. Die richtig teuren, neuen Modelle waren nur noch mit Mühe von echten Menschen zu unterscheiden. Vor ein paar Wochen hatte Tim, der an der Uni oft mit der modernsten Technik konfrontiert wurde, bei einer großen, langbeinigen Schönheit, die ihm auf dem Flur entgegen gekommen war, erst nach dem Barcode am Ringfinger ihrer rechten Hand Ausschau halten müssen, um sich sicher zu sein, dass er es nicht mit einem echten Menschen zu tun hatte. Das Modell, das jetzt auf seiner Türschwelle stand, war offensichtlich schon ein paar Jahre älter, allerdings gut in Schuss, fast ohne Abnutzungserscheinungen und geschmackvoll in einen grauen, perfekt sitzenden Anzug gekleidet. Die Haut war einen Tick zu bleich für einen echten Menschen, die Gesichtszüge noch einen Tick zu kantig. Welcher Baureihe er wohl entstammte? All diese Gedanken schossen Tim in den ersten zwei Sekunden nachdem er die Tür geöffnet hatte durch den übermüdeten Kopf. Dann sah er den Brief, den ihm der Android entgegen hielt. Ein schwarzer Umschlag. Tim starrte darauf, während Panik seinen Körper flutete. Natürlich wusste er, was das bedeutete, doch das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein.
Vor wenigen Augenblicken, als es an der Tür geklingelt hatte, war ein kleiner Funken Hoffnung in ihm aufgekeimt. Hoffnung, vor der Tür würde Helena stehen, und sie könnten nochmal in Ruhe miteinander reden. Gestern hatte ihn die Situation überrumpelt, aber nun, nachdem er die ganze Nacht über Zeit gehabt hatte, hätte er ganz genau gewusst, was er ihr sagen wollte, wie er sie umstimmen konnte. Und nun hielt ihm diese Maschine stumm den Brief hin. Ohne sich zu bewegen. Ohne zu zwinkern. Ohne auch nur ein verständnisvolles oder mitfühlendes Wort zu sagen.
Mit zitternden Fingern nahm Tim ihm den Brief aus der Hand und schloss die Tür. Niemand konnte ihn zwingen, den Brief zu öffnen. Solange er nicht hinein sah, war es auch möglich, dass es sich um eine Verwechslung handelte. Auch wenn es sich nicht bestreiten ließ, dass es sein Name und seine Adresse waren, die da in feinen weißen Lettern auf dem Umschlag standen.
Er ließ sich in seinen Sessel im Wohnzimmer sinken und drehte den Brief immer wieder in den Händen, betrachtete ihn von allen Seiten. Ein paar Minuten saß er einfach so da, gedankenverloren, voller Angst und Zweifel, und gleichzeitig zu feige, den Brief zu öffnen. Es hatte keinen Zweck. Er konnte jetzt nicht davonlaufen, nicht so tun, als wüsste er nicht, was es mit dem schwarzen Umschlag auf sich hatte. Tränen liefen seine Wangen hinunter, als er mit seinen zittrigen, schweißnassen Fingern den Brief aufriss und ein einzelnes Blatt Papier herauszog. Die Worte waren in derselben, feinen Schrift gedruckt, die auch schon den Umschlag geziert hatte.

Sehr geehrter Herr Fischer,
es tut uns sehr leid Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihre Frau Helena Fischer am Abend des 17.Oktober diesen Jahres bei einem Autounfall zu Tode gekommen ist.
Der Unfall ereignete sich an der Rudi-Dutschke-Straße, Ecke Rodmanstraße. Dabei starben noch drei weitere Menschen, zwei wurden schwer verletzt.
Über alles Weitere werden Sie in den nächsten Tagen schriftlich informiert.

Herzliches Beileid

Jetzt lag der Brief ganz hinten eingeklemmt im Fotoalbum. Er trug den Briefkopf und das Wappen des Landes Berlin. Drei Wochen war es her, dass Tim ihn bekommen hatte. Es hatte ihm die Luft zum Atmen genommen. Seitdem war er mit Müh und Not durch das Leben getaumelt. Alles war so weit weg, als trennte ihn eine unsichtbare Wand vom Rest der Welt. Alles andere war irrelevant, geradezu lächerlich geworden.
Dieser Brief war so furchtbar kalt und knapp. Ein typisches, computergeneriertes Schreiben. Tim hatte in seinem Leben mehrere dieser schwarzen Umschläge überbracht bekommen, als seine Großeltern gestorben waren, seine Eltern, aber nie zuvor hatte er realisiert, wie unglaublich distanziert diese Standard-Briefe eigentlich waren.
In den drei Wochen hatte er ihn mehrere hunderte Male gelesen, genau wie alles andere, was er in den Tagen danach an Material über den Unfall hatte finden können. Zeitungsartikel, Ermittlungsberichte, all das war vollautomatisch aus den Fakten erstellt worden, die zur Verfügung standen. Soweit er das beurteilen konnte, war Helena zu schnell gefahren und mit einem Audi zusammengestoßen, als dieser ihr die Vorfahrt genommen hatte. Er hätte nicht zulassen dürfen dass sie selbst fährt, so aufgewühlt wie sie gewesen war. Es war auch seine Schuld, dass Helena jetzt nicht mehr am Leben war.
Er hatte die Formalitäten erledigt, ihre Beerdigung durchgestanden, war zu seinen Vorlesungen gegangen und hatte kaum Schlaf und keine Ruhe gefunden. Tag für Tag hatte er jeweils das Nötigste abgearbeitet und dabei die ganze Zeit nur an Helena gedacht. An sie und daran, dass er mit Schuld an ihrem Tod war. Nächtelang, war er wach gelegen, hatte geweint, geschrien, die Decke angestarrt. Nichts hatte den Schmerz, der sein Innerstes zerfraß, auch nur um eine winzige Nuance verringert. Erst seit er den Termin für den heutigen Abend ausgemacht hatte, ging es ihm eigentümlicher weise ein kleines bisschen besser.
Es war schmerzhaft die Fotos im Album anzusehen, all diese Erinnerungen an glücklichere Zeiten, aber er hatte es sich für heute fest vorgenommen, das ein letztes Mal zu tun und so bedrückend es einerseits auch war, Helenas wunderschönes Lachen auf den Fotos zu sehen, so war es doch andererseits auch schön, daran zu denken, dass es glücklichere Tage gegeben hatte.
Nach den Fotos aus Bali endete das Fotoalbum mit dem schwarzen Umschlag, der ihm die traurige Nachricht überbracht hatte. Tim klappte das Album zu und sah auf die Uhr. In den letzten Wochen war die Zeit stets so zäh vergangen, heute schien sie dafür regelrecht zu verfliegen. Es war schon fünf nach Sieben. Zeit zu gehen, wenn er nicht zu spät zu seinem Termin kommen wollte.
Er stand auf, nahm sich seine Jacke und zog die Tür hinter sich ins Schloss. Darum, was mit seinen Hinterlassenschaften werden würde, hatte er sich nicht gekümmert. Es gab keine Erben, also würde alles Brauchbare versteigert werden und der Erlös dem Staat zufallen. Was kümmerte es ihn noch?
Als er am Fuß der Stufen angekommen war, bemerkte er aus dem Augenwinkel, dass an seinem Briefkasten das grüne Lämpchen leuchtete. Hatte es heute Nachmittag schon gebrannt, als er nach Hause gekommen war? Sicher nicht. Es war Monate her, dass er das letzte Mal richtige Post gekriegt hatte. Wer schrieb denn noch richtige Briefe? Alles was Staat oder Ämter mitzuteilen hatten, wurde persönlich von Androiden überbracht. Er öffnete mit seinem Daumenabdruck den schwarzen Kasten und entnahm ihm einen kleinen weißen Umschlag, kleiner als eine Postkarte. Er war nicht adressiert oder sonst irgendwie beschrieben, jemand musste ihn persönlich eingeworfen haben. Den Briefumschlag in der Hand lief Tim zur Straße und hielt ein Taxi an. Lesen konnte er auch auf der Fahrt. Ein schwarzer Ford Mustang hielt geräuschlos vor ihm an, er ließ sich auf der Rückbank nieder und sagte dem Navigationssystem in langsamen und deutlichen Worten sein Ziel an, bevor er sich dem Umschlag widmete.
Der Brief enthielt nur einen kleinen Notizzettel in einer mädchenhaften Handschrift, die ihm seltsam vertraut vorkam. Darauf stand:

Lieber Tim,
ich habe mich vorhin sehr gefreut, dich mal wieder zu sehen. Du sahst traurig und sehr müde aus.
Ich liebe dich noch immer sehr, aber ich verstehe, dass du nicht mit einer Studentin zusammen sein kannst und respektiere das. Falls du mal einfach jemanden zum Reden brauchst, bin ich trotzdem immer für dich da, ich möchte nur dass du das weißt.

Ich hoffe sehr, dass es dir gut geht,
Anna

Die ganze Fahrt über starrte Tim auf den Zettel und las ihn mehrere Male durch. Drei Wochen. Seit drei Wochen fühlte er sich wie der letzte Dreck und keiner bekam davon irgendetwas mit. Niemand hatte ihn darauf angesprochen, ob es ihm gut ging oder sich gefragt, warum er kaum noch Termine wahrnahm. Und ausgerechnet Anna, die ihn seit Monaten nicht gesehen hatte, nahm mit einem Blick wahr, was keiner sonst, weder Kollegen noch Studenten, erkannt hatte. Auch wenn er sich nicht mit ihr zum Reden treffen würde, war es doch ein schönes Gefühl, dass es jemanden gab, dem er nicht egal war. Auch wenn er Anna nicht besonders nahe stand, dieser Brief bedeutete ihm etwas. Als sie vor der Praxis anhielten, einem einzeln stehenden weißen Haus, stieg Tim aus dem Taxi und steckte sich den Brief in die hintere Hosentasche. Er wollte ihn nicht wegschmeißen, dafür hatten die Worte ihn zu sehr berührt, einfach aus dem Grund, dass sie so persönlich waren. Weil sie wirklich ihn meinten.
Ein paar Minuten stand er dort auf der Straße und atmete tief durch. Es ging dem Ende entgegen. Er öffnete die weiße Eingangstür, die mit dem Logo des PSH verziert war, und trat ein.

Ich und mein kleines Luxusproblem (1)

Einen wunderschönen guten Tag,

mein neuer Gedichtband ist erschienen und ich bin total glücklich darüber. Es gibt ihn hier zu kaufen: Arno Wilhelm – Ich und mein kleines Luxusproblem: Lyrik

Er heißt „Ich und mein kleines Luxusproblem“, kostet 7 Euro und enthält unter anderem einen Text über Angst, der auf den Namen Horst hört, eine Kurzgeschichte über die Zukunft namens 2084, einen Text namens Meine Bitte, der einer Freundin von mir gewidmet ist, die Mukoviszidose hat, einen politischen Text über Arbeitsplätze namens Vollbeschäftigung und einen ganzen Haufen Genesungslyrik, der während meiner Kur in der Ostseeklinik Prerow entstanden ist.

Insgesamt sind es 60 Gedichte und 1 Kurzgeschichte. Mit ganz wunderbaren Illustrationen, die Karsten Lampe angefertigt hat.

Ausserdem habe ich zur Feier des Tages meine Homepage www.arno-wilhelm.de einer Frischzellenkur unterzogen und bei Feed the Rabbit, einem sehr guten Musikprojekt aus meiner alten Heimat, ist auf dem Blog ein Artikel über mich erschienen, den es hier nachzulesen gibt: http://www.feedtherabbit.de/2012/03/14/ich-und-mein-kleines-luxusproblem/

So long,
Larry deVito

Termine (10)

Guten Morgen allerseits,

so langsam füllt sich der Terminkalender für dieses Jahr, außerdem hab ich mal wieder neue Rezensionen verfasst. Grund genug für einen neuen Post.

Zuerst die Rezensionen, darunter für schnell entschlossene
jeweils der Link zu Amazon:

Rezension: Lea Streisand – Berlin ist eine Dorfkneipe

Rezension: Sebastian 23 – Schwerkraft und Leichtsinn

Beide Bücher sind sehr schön und haben mir viel Spaß beim Lesen bereitet. Nun noch zu den Terminen:

Am 03.04. findet der nächste Dichtungsring statt, mit Peh, Karsten Lampe, Matthias Niklas und mir. Jan Papke wird uns musikalisch unterstützen.

Am 18.04. bin ich zu Gast bei Periplaneta in der Veranstaltung namens „Kopfkino“ und stelle meinen neuen Gedichtband vor.

Am 07.05 lungere ich schon wieder bei Periplaneta herum, dieses Mal bei ihrer Lesebühne „Vision und Wahn“, zusammen mit Lea Streisand (von der oben schonmal die Rede war) und Hans Sølo, den der eine oder andere vielleicht schon von seinen
Auftritten beim Dichtungsring kennt.

Und hier noch die kommenden Dichtungsring-Termine im Überblick:
29.05.2012 Dichtungsring (mit Thomas Manegold und The Sycamore Tree)
31.07.2012 Dichtungsring
30.10.2012 Dichtungsring

Dem Ende entgegen (6)

Einen wunderschönen guten Abend,

es hat ein wenig länger gedauert, als ich gehofft habe, aber hier kommt nun der sechste Teil der Erzählung „Dem Ende entgegen“. Damit ist mehr als die Hälfte der elf Teile fertig. In ein paar Tagen berichte ich hier auch darüber, warum das so lange gedauert hat mit dem sechsten Teil, soeben ist nämlich mein neuer Gedichtband erschienen, aber wie gesagt, dazu gibt es in ein paar Tagen noch News. Ansonsten habe ich das Layout des Blogs ein bisschen verfeinert. In der Spalte rechts gibt es jetzt auch ein neues Feld, da kann man immer sehen, welches Buch ich gerade so lese.

Ich wünsche euch viel Spaß mit dem neuen Teil,

Mit den besten Grüßen,
Larry deVito

Arno Wilhelm – Dem Ende entgegen – Download Kapitel 1 – 6

Kapitel 6

Glücklicherweise war heute im Zoo nicht viel los. Die Warteschlange vor dem Tigerhaus ging nicht wie üblich bis hinter zu den Elefanten und Giraffen. Nur ein junges Pärchen mit Kind war noch vor ihm dran. Die würden bestimmt nicht allzu lange brauchen. Auch er war in jungen Jahren ein paar Mal mit seinen Eltern hier gewesen, doch damals war er noch zu klein, zu ängstlich und hatte überhaupt keinen Gefallen an den wilden Tieren gefunden. Der Junge vor ihm war vielleicht sieben oder acht Jahre alt, leckte an einem Eis und besah sich mit großen Augen die Welt um ihn herum. Seine Eltern schmiegten sich aneinander und unterhielten sich leise. Micha befiel ein Anflug von Wehmut um all die Dinge, die er noch hätte erleben können, wenn seine Diagnose anders ausgefallen wäre oder die Chancen auf Heilung besser stünden. Er würde nie eine eigene Familie haben, nie lernen was es bedeutete, Vater zu sein. Natürlich war auch nicht gesagt, dass er jemals das Gefühl, eine eigene Familie zu haben, kennengelernt hätte, selbst wenn ihm noch 50 Jahre oder mehr geblieben wären. In den letzten Jahren hatte er sich kaum um solche Dinge geschert. Er war sein eigener Lebensmittelpunkt gewesen und damit auch gut gefahren. Nur seit dem Tag im Krankenhaus, seit er wusste, wie bald es vorbei sein würde, hatte er immer und immer wieder das Gefühl, er hätte irgendetwas größeres, bedeutungsvolleres mit seinen Jahren tun müssen. Etwas, das nicht nur seinem eigenen, kurzfristigen Wohl diente. In die Forschung gehen und beruflich erfolgreich werden zum Beispiel oder eben privates Glück finden. Doch weder das Eine noch das Andere hatte in seiner Macht gestanden, was also hätte er schon groß anders machen können?
Vor dem Pärchen ging die Tür auf und zwei schlaksige Jungs, die Micha auf 16 oder 17 schätzte, kamen aus dem Tigerhaus geschlurft. Beide wirkten aufgedreht und begeistert.
„War das geil“, sagte einer von beiden gerade, als sie an Micha vorbeikamen. „Müssen wir morgen gleich wieder machen.“
Sein Kumpel nickte nur grinsend und strich sich die fettigen, langen Haare aus dem Gesicht. Micha dachte an die ersten Male, die er allein oder mit Freunden hier gewesen war. Die zitternden Hände, die Aufregung. Das war toll gewesen. Mittlerweile war es halb Nostalgie, halb Bewunderung für die Anmut der Tiere, die ihn regelmäßig in den Zoo brachte. Angst oder Aufregung verspürte er dabei kaum noch. Vor ihm hob der junge Familienvater seinen Sohn hoch und folgte seiner Frau in die Schleuse. Die Türen schlossen sich und Micha bildete nun ganz allein die Warteschlange.
Es dauerte nur wenige Minuten, bis die drei wieder da waren, ganz wie Micha es vermutet hatte. Der kleine Junge schrie und weinte während seine Eltern sich alle Mühe gaben, ihn zu beruhigen. Wahrscheinlich hatten sie gedacht, sie würden ihm eine Freude bereiten, in dem sie ihm diese anmutigen Tiere zeigten. Das Gesicht des Kindes zeigte nur Angst, wenn überhaupt, würde erst in ein paar Stunden ein wenig Begeisterung einsetzen. Bestimmt kauften sie ihm jetzt auf den Schreck ein Eis, oder eine andere Süßigkeit. Die meisten Kinder waren so leicht zu abzulenken. Schade, dass man das auf dem Weg ins Erwachsenenalter irgendwann verlor, dachte Micha, mit einem Gedanken daran, wie er die letzten Tage verbracht hatte, als er nun selbst die paar Schritte durch die Türen ging und den roten Knopf drückte, damit die Schleuse sich schloss. Die Türen zum Inneren des Tigerhauses öffneten sich und er trat ein.
Er befand sich in einer großen Hütte, deren Inneres rundum mit Holz verkleidet war. Nur von außen war das Metall zu sehen, das die Außenwände aus Sicherheitsgründen umgab. Der Boden war aus Stein und übersät mit Dreck, der aussah wie eine Mischung aus Essensüberresten und Exkrementen. Eine Ecke war mit Stroh ausgepolstert, ansonsten wirkte der Raum vollkommen karg. Die riesige Klappe durch die die Tiere im Sommer in ihr großes Gehege konnten, war heute verschlossen. Hier war die Luft viel stickiger als draußen. Der Geruch der Tiere war markant und mit nichts vergleichbar, das Micha je an einem anderen Ort gerochen hatte. Insgesamt gab es hier im Zoo vier Tiger. Am Hals und an allen vier Pfoten trug jeder von ihnen dünne, silberne Metallbänder, die mit hochentwickelten Mikrochips und jeder Menge anderer Technik bestückt waren, die Micha nicht verstand.
Das einzige Tigerweibchen lag heute schlafend in der Ecke mit dem Stroh, sie schien sich an dem Weinen des kleinen Jungen vor wenigen Minuten nicht gestört zu haben. Die drei Männchen liefen unruhig vor ihr auf und ab, bisher hatten sie Micha noch nicht wahrgenommen. Es war jedes Mal aufs Neue unglaublich, wie grazil und katzenartig sie ihre schweren Körper bewegten. Langsam, ruhig und bedrohlich. Unter ihrem orangen Fell mit den schwarzen Streifen konnte er sehen, wie die Muskeln sich bewegten. Er spürte wie sein Herz schneller schlug. Vorsichtig machte Micha ein paar Schritte in ihre Richtung. Eines der Tiere hatte ihn bemerkt und kam langsam auf ihn zu, ohne den Blick auch nur für eine Sekunde abzuwenden. Zwischen ihnen war kein Gitter, kein massives Glas, nicht mal eine Bretterwand, die den Tiger von Micha fernhielt. Kein Wunder, dass Kinder die Faszination dieser Situation noch nicht verstehen konnten. Instinktiv spannte sich jeder Muskel im Körper an und es gehörte viel Überwindung dazu, die instinktive Fluchtreaktion zu unterdrücken.
Von den anderen Tigern hatte sich keiner für ihn interessiert. Vermutlich war derjenige, der auf ihn zukam, so eine Art Chef unter ihnen, aber obwohl er schon so oft hier gewesen war, wusste Micha nicht genug von Tigern, als dass er sich damit sicher gewesen wäre. Nur wenige Zentimeter vor ihm blieb der Tiger stehen. Micha streckte seine Hand aus, doch der Tiger machte sich nicht die Mühe seinen massiven Kiefer danach auszustrecken sondern roch nur an dem Neuankömmling. Er wusste, was Micha wusste.
Auch wenn es an sichtbaren Barrieren mangelte, konnte er ihn doch nicht erreichen, zumindest nicht mit dem Kiefer und auch nicht mit den Tatzen. Dafür sorgten die kleinen Metallbänder. Von ihnen ging irgendeine Art von Feld aus, die sie auf Distanz hielt. Es fühlte sich an, als würde man eine sehr warme, hauchdünne Oberfläche aus Glas berühren, unter der so viel Strom entlang floss, dass es sich anfühlte, als würde sie ständig leicht pulsieren. Man konnte sie nicht sehen und bekam auch keinen Stromschlag, doch es war unmöglich hindurch zu fassen.
Langsam beruhigte sich sein Puls wieder und er begann, dem Tiger über das Fell zu streichen. So etwas ließen sich nur Tiger gefallen, die schon sehr lange hier im Zoo waren. Die jüngeren versuchten meistens in die Hand zu beißen oder liefen weg. Manchmal wurden Tiere frisch gefangen und kamen dann hierher, die sprangen die Besucher auch schon mal an, mussten aber auch irgendwann einsehen, dass sie nicht gewinnen konnten, ohne ihre Tatzen und ihr Gebiss zu benutzen. Die Besucher kamen immer mit dem Schrecken und dem ein oder anderen blauen Fleck davon. Wie wohl die Roboter aussahen, die dafür zuständig waren, wilde Tiere für die Zoos einzufangen, fragte sich Micha. Es gab so viel, über das er noch nie nachgedacht hatte und nun würden alle Fragen unbeantwortet bleiben. Er versuchte, sich den Geruch dieses Ortes tief einzuprägen, während er immer noch das weiche Fell des Tigers berührte.
In diesem Augenblick stieg ohne Vorwarnung seines Körpers ein starker Hustenreiz in ihm auf, so dass er es nicht mehr rechtzeitig schaffte, sich die Hand vor den Mund zu halten. Er hustete lautstark und sprenkelte das Fell des Tigers mit winzigen Blutstropfen. Alle Tiere im Raum hatten mitten in ihren Bewegungen innegehalten und blickten zu ihm, selbst das Tigerweibchen in der Ecke war aufgewacht und hatte den Kopf gehoben, während Micha sich vor Schmerzen beim Husten krümmte und wand, den Arm auf seinen Oberkörper gepresst. Wie in einem Western, wenn man den Saloon betritt, dachte Micha. Die vier Tiere starrten ihn bewegungslos an, es fehlte nur der Pianist, der aufhörte zu spielen und vielleicht ein Ballen Heu, der irgendwo durchs Bild flog. Das kurze, gepresste Lachen, machte den Husten nur noch schmerzhafter. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Mit kleinen Schritten lief er zur Schleuse, die sich um ihn herum schloss und dann den Weg nach draußen freigab. Krampfhaft versuchte er möglichst ruhig zu atmen und brachte den Husten an der frischen Luft wieder unter Kontrolle.
Eine Gruppe Mädchen, vielleicht sieben oder acht, die nicht älter als 14 sein konnten, drängelte und schob sich an ihm vorbei, während er langsam den Eingangsbereich des Tigerhauses verließ. Niemand achtete auf ihn. Wahrscheinlich würden sie sich ein bisschen erschrecken, falls sie die Blutstropfen auf dem Fell des Tigers sahen. Micha hielt sich immer noch Bauch und Brustkorb, aber langsam beruhigte er sich wieder.
Nun gut, dachte er, die Erinnerung an seinen letzten Besuch hier hatte er sich schöner erhofft, aber er würde nicht noch einmal da hineingehen. Die schlechte Luft tat seinen kaputten Lungen alles andere als gut. Mühsam versuchte er sich zusammenzureißen und ging in Richtung des kleinen Cafés, in dem er nach den meisten seiner Besuche hier noch ein Bier getrunken hatte. Er überquerte den großen geteerten Platz, der die verschiedenen Teile des Zoos miteinander verband. Hier standen grell bunte Automaten, an denen man sich und seine Kinder mit Süßigkeiten versorgen konnte. Auf der anderen Seite des Platzes war das Café. Ein runder Raum, innen und außen quietschgelb gestrichen, bestückt mit kleinen Stühlen und Tischen. Außer ihm war heute niemand hier. Micha war froh, endlich eine Sitzgelegenheit zu haben. An einem kleinen, alten Servierautomaten drückte er den Knopf für ein großes Wasser, legte seinen Daumen zum bezahlen auf den Sensor und nach wenigen Sekunden öffnete sich eine Klappe, so dass er die Wasserflasche heraus nehmen konnte. Dazu angelte er sich noch eins der Briefpapiere, das mit dem Briefkopf des Zoos bedruckt war. Solches Briefpapier und Ansichtskarten mit allen möglichen Tieren darauf gab es hier zuhauf. Es war umsonst, wahrscheinlich weil es gute Werbung für den Zoo war.
Seufzend ließ er sich an einem der Tische nieder und trank die erste Hälfte der Wasserflasche in einem Zug aus. Den Entschluss, seinen Eltern einen Brief zu schreiben, hatte er bereits zuhause gefasst. Er musste es ihnen noch irgendwie mitteilen, sie durften es nicht erst erfahren, wenn schon alles vorbei war. Die Idee, den Brief gleich hier zu schreiben, war ihm dann auf dem Weg hierher gekommen. Nach einem letzten, beruhigenden Besuch bei den Tigern, würde es leichter von der Hand gehen, hatte er gedacht. So viel zu übersteigerten Erwartungen. Seufzend nahm er einen Stift vom Tisch und begann zu schreiben.

Hallo ihr Lieben,
entschuldigt, dass ich es euch nicht persönlich gesagt habe, aber was ich euch mitteilen muss

Micha hielt inne, zögerte, dann zerknüllte er den Zettel, warf ihn in den Mülleimer und holte sich ein neues Briefpapier, um von vorne zu beginnen. Schon die Anrede passte nicht. Wie brachte man etwas so gewaltiges auf Papier? Wie konnte er das mit der Diagnose erzählen? Erklären, warum er ihnen bisher nichts gesagt hatte? Was waren die richtigen Worte dafür? Sollte er ihnen sagen, was genau er vorhatte? Er spürte, wie Tränen seine Wangen hinunterliefen. Einige Minuten saß er einfach nur da und dachte nach, tief versunken in seinen Gedanken.
Dann begann er erneut zu schreiben.

Dem Ende entgegen (5)

Hallo zusammen,

weil’s momentan so schön rund läuft, kommt hier der fünfte Teil der Geschichte. Wir nähern uns der Halbzeit!
Bezüglich der Gattungsfindung habe ich zumindest bei Wikipedia ein gutes Zitat über Novellen gefunden:

„Als Gattung lässt sie sich nur schwer definieren und oft nur in Bezug auf andere Literaturarten abgrenzen. Hinsichtlich des Umfangs bemerkte Hugo Aust, die Novelle habe oft eine mittlere Länge, was sich darin zeigt, dass sie in einem Zug zu lesen sei.“

Ob das wohl das Richtige ist? Ich habe keine Ahnung…

Fühlt euch gegrüßt,
Sir Larry deVito

Arno Wilhelm – Dem Ende entgegen – Download Kapitel 1 – 5

Kapitel 5

Tim hatte sich auf eine Bank sinken lassen und versuchte, den Schmerz in seinem Rücken und seiner Hüfte zu ignorieren. Was für ein miese Idee es gewesen war, mit der U-Bahn zu fahren. Er wusste nicht genau, was ihn zu dieser Entscheidung bewogen hatte, aber er bereute sie im Moment zutiefst. Als er das letzte Mal in eine U-Bahn gestiegen war, konnten die Dinger noch nicht halb so schnell gefahren sein. Langsam drehte er die silberne Münze in seiner Hand, wegen der ihm nun sein Rücken so weh tat. Was hatte er auch während der Bahn-Fahrt mit ihr spielen müssen? Die Münze zeigte auf der einen Seite sein Profil und auf der anderen das von Helena. Am äußeren Rand waren ihre Initialen und das Datum ihrer Hochzeit eingraviert.
Es war sein Geschenk für Helena gewesen, an ihrem ersten Hochzeitstag. Am selben Tag an dem sie ihm die Taschenuhr geschenkt hatte. An dem Abend als sie gegangen war, hatte sie all ihre persönlichen Gegenstände aus der Wohnung mitgenommen, ihren Schmuck und ihre Klamotten, alles. Nur die Münze lag am nächsten Morgen noch in der Küche auf der Arbeitsplatte. Einzeln und trostlos, ohne eine Notiz und ohne eine Spur von ihr. An diesem elenden Morgen. Seither trug er sie immer bei sich und spielte immer dann mit ihr, wenn er besonders nervös war.
Auch die Situation in der U-Bahn war ihm unangenehm gewesen. Die hübsche blonde Frau neben ihm, die so penetrant laut Musik gehört hatte. Die ganzen Leute die ein- und ausgestiegen waren, mal dicht an ihn gedrängt, mal weit entfernt. Manche allein unterwegs, andere in kleinen Gruppen, aber alle so vollkommen anders als er, so fröhlich und vor allem so unglaublich nah. Ihre Stimmen, ihr Geruch. Er hatte sich sehr unwohl gefühlt. Warum war er überhaupt in die U-Bahn gestiegen? Was hatte er sich beweisen wollen? Möglicherweise eine Art Nähe zum „einfacheren“ Volk. Vielleicht hatte er versucht, wenigstens ein Stück zu sein wie sie, die er in den letzten Wochen so oft beneidet hatte. Was für ein lächerlicher Gedanke. Er war nicht wie sie, und würde es auch nie sein. Die Akademiker blieben unter sich und der Rest der Menschen wollte mit ihnen nichts zu tun haben. Tief in Gedanken darüber versunken, hatte er vergessen, sich auf die Münze zu konzentrieren, nur deshalb war sie ihm aus der Hand gerutscht. Was für ein Glück, dass ihm der junge Mann geholfen hatte, nach seiner idiotischen Bauchlandung.
Eigentlich war der Plan gewesen, vom Restaurant bis nach Hause mit der U-Bahn zu fahren, aber er hatte sich in der Bahn zu sehr vor sich selbst und dem jungen Mann geschämt, als dass er sich einfach wieder hätte hinsetzen können und so tun, als wäre nichts gewesen. Es war nicht mehr weit, das bisschen konnte er jetzt auch laufen, auch mit schmerzender Hüfte. Ein bisschen frische Luft würde ihm gut tun.
Früher hätte er sich nach so einem Erlebnis sein Handy geschnappt, Helena von der ganzen Sache berichtet und gemeinsam mit ihr darüber gelacht. Sie hätte ihm von ihrem Tag erzählt und davon, was sie heute noch vorhatte. Wie sie gemeinsam den Abend verbringen könnten. Solche Sachen hatten sie in den letzten Monaten ihrer Beziehung vernachlässigt, auch wenn es ihm währenddessen nie wirklich aufgefallen war. Doch in den letzten Wochen hatte er viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Zeit zu überlegen, was zwischen ihnen schief gelaufen war. Er stand von der Bank auf und machte sich auf den Weg nach Hause. Noch aus seinen Jugendjahren kannte er sich hier in der Gegend bestens aus, auch wenn er schon lange nicht mehr zu Fuß unterwegs gewesen war. Zeit war schließlich Geld.
Seine Taschenuhr verriet ihm, dass es jetzt Viertel vor Drei war. Punkt 15.00 Uhr hätte er eigentlich ein Treffen der Ausbildungskommission gehabt, und um 17.30 Uhr ein Meeting mit zwei vielversprechenden Doktoranden, aber die Termine hatte er beide schon vor Tagen abgesagt. Seine offizielle Begründung war gewesen, dass er noch an dem Paper für die Konferenz Anfang Januar schreiben musste. Theoretisch stimmte das, er hatte sogar schon ein Thema für das Paper gehabt, aber da er nicht vorhatte die Konferenz noch zu erleben, spielte es keine Rolle, ob seine Stellungnahme zum „Einfluss der neuesten Strömungen in der Datenspeicherung auf die Wirtschaftlichkeit der universitären Lehre“ rechtzeitig fertig wurde oder nicht.
Beim Gehen tat die Hüfte weniger weh, als sie es eben noch beim Sitzen auf der kalten Bank getan hatte, dennoch humpelte er leicht.
Langsam füllten sich die Straßen wieder mehr mit Passanten, die Mittagszeit war vorbei und jetzt gingen die Leute vermutlich zum nächsten Punkt in der Tagesordnung über. Oder sie gingen einfach von einem Lokal ins Nächste, was wusste er schon, dachte Tim schulterzuckend. Bloß weil er sie aus der Ferne beneidete, und bei seinen Studien manche ihrer Verhaltensweisen untersucht hatte, bedeutete das nicht, dass er verstand, wie die Durchschnittsbürger ihren Alltag verbrachten, und wie sich das für sie anfühlte.
Tim beobachtete die Leute um ihn herum, während er gemächlichen Schrittes nach Hause ging.
Auf der anderen Straßenseite erkannte eine kleine Gruppe von Studenten, die im letzten Semester gemeinsam mehrere Seminare bei ihm besucht hatten. Sie liefen in die entgegengesetzte Richtung. Die beiden jungen Männer waren vielleicht Mitte 20 und hatten beide lange Haare. Der eine war groß und so dünn, dass er wahrscheinlich nur knapp an der Grenze zur Magersucht lag. Im Gegensatz dazu war sein bester Freund recht kräftig. Neben seinem mageren Kommilitonen hatte er immer regelrecht fett gewirkt. Der dünne von beiden hieß Harald, wenn sich Tim richtig erinnerte, und der etwas korpulentere hörte auf den Namen Timotheus, wurde aber von den meisten Theo gerufen. Die beiden wurden von einer jungen Frau begleitet, an die sich Tim noch allzu gut erinnerte. Sie hieß Anna und war in den Kursen immer sehr aktiv und wissbegierig gewesen. Eine hübsche Frau mit einem glatten, fein geschnittenen Gesicht, einem schlanken, durchtrainierten Körper, den sie auch gerne in knappen, eng anliegenden Klamotten zur Schau stellte, und einem beeindruckend flinken Verstand. Ihre kurzen blonden Haare standen auch heute wieder in alle Richtungen vom Kopf ab. Tim hatte sie attraktiv gefunden, sicherlich. Sehr attraktiv, aber nicht mehr. Doch irgendwann im Laufe des Semesters hatte sie sich ein bisschen in ihn verguckt. Von einem Tag auf den anderen fing sie an, ihm kleine Zettelchen mit Liebesgedichten zu schreiben und zuzustecken. Nach den Sitzungen war sie immer noch etwas länger geblieben und hatte versucht mit ihm zu flirten. Ursprünglich hatte er vorgehabt, sie als eine seiner Doktorandinnen aufzunehmen, aber ihre immer deutlicheren Annäherungsversuche waren ihm zunehmend unangenehm geworden. Eines Tages, als sie nach dem Seminar allein im Raum gewesen waren, hatte Anna versucht ihn zu küssen und ihm dabei auch noch an den Hintern gefasst. Das war der Tropfen gewesen, der für ihn das Fass zum überlaufen gebracht hatte. Es war notwendig gewesen, ihr Grenzen aufzuzeigen, und das hatte er auch mit deutlichen Worten getan. Mit wässrigen Augen und gekränktem Stolz im Blick war sie einige Minuten später aus dem Saal geeilt. Von da an war sie in keinem seiner Kurse mehr aufgetaucht und auch die beiden Jungs nicht. Inzwischen hatte sie sich wohl erholt. Zumindest sah es so aus. Sie und dieser Harald hielten Händchen. Da hatte der junge Mann sicher den Fang seines Lebens gemacht, dachte Tim und musste lächeln.
Im selben Augenblick, als Tim so dastand und sie lächelnd von der anderen Straßenseite aus beobachtete, sah Anna zufällig herüber. Ihre Blicke trafen sich für einen kurzen Augenblick und Tim bildete sich ein, für eine Sekunde erneut verletzten Stolz in diesen schönen braunen Augen aufblitzen zu sehen. Stolz und etwas anderes, das er nicht einordnen konnte. Auf diese Entfernung musste es fast Einbildung sein, und doch spürte er ein flaues Gefühl im Magen. Ein Gefühl von Schuld, auch wenn er seiner Ansicht nach im Umgang mit der Studentin alles richtig gemacht hatte. Doch der Moment ging vorüber, Anna drehte sich zu ihrem Freund und ging weiter, ohne ein Zeichen, dass sie ihn gesehen hatte. Als hätte sie einfach durch ihn hindurchgeschaut.
Versunken in dieser Flut von Gedanken war Tim kurz stehen geblieben, doch jetzt trottete er weiter. Er fand es immer wieder aufs Neue befremdlich, dass er in einer so großen Stadt so oft Leute sah oder traf, die er kannte. Natürlich bewegte er sich normalerweise in erster Linie auf dem Campus, da war das abzusehen, aber auch in der Stadt selbst war es nicht anders. Selbst wenn er einmal im Jahrzehnt zu Fuß unterwegs war.
Als er eine Viertelstunde später sein Appartement erreichte, schwitzte er vor Anstrengung. Er spürte leichtes Seitenstechen von der ungewohnten sportlichen Betätigung und zu allem Überfluss schmerzten sein Rücken und seine Hüfte noch immer. Helena hätte jetzt bestimmt ein paar wunderbare Hausmittelchen parat gehabt. Kalte Umschläge oder so etwas.
Immer und immer wieder diese verdammten Gedanken an Helena, er wurde sie einfach nicht los. Sie verfolgten ihn, wohin er auch ging, was auch immer er tat. Von Morgens bis Abends. Selbst in seinen Träumen waren sie noch da. Er sah auf die Uhr. Zwanzig nach Drei. Nichteinmal mehr fünf Stunden, dann würde es vorbei sein, dachte er. Es wurde langsam aber sicher Zeit sich zu verabschieden.

Dem Ende entgegen (4)

Guten Morgen allerseits,

damit wieder ein bisschen Bewegung in den Blog kommt, hier Teil 4 der Geschichte. Da ich darauf hingewiesen wurde, dass der Begriff Kurzgeschichte für eine Geschichte mit 11 Kapiteln ein bisschen unpassend ist, und ich mir bei der Definition dessen, was eine Novelle ist, auch nicht sicher bin, muss ich mir noch überlegen, was in Zukunft die passende Bezeichnung dafür sein wird.
Ich hoffe es gefällt euch weiterhin,

Mit den herzlichsten Grüßen,
Larry deVito

Arno Wilhelm – Dem Ende entgegen – Download Kapitel 1 – 4

Kapitel 4

Zögernd und mit Tränen in den Augen ließ Micha den Telefonhörer sinken. Er hatte seiner Mutter nichts gesagt. Das Gespräch war wie immer gewesen, wie so viele, die sie in den letzten Jahren geführt hatten. Ein bisschen was übers Wetter, Mitteilungen, wer in der Verwandtschaft gerade was tat oder mit wem Streit hatte, ein kurzer Bericht darüber, dass es mit der Hüfte seines Vaters langsam wieder aufwärts ging, und dann noch die obligatorische Frage, wie es bei ihm denn eigentlich so lief. Einen kurzen Moment hatte er gestockt, sich gefragt, was wohl passieren würde, wenn er es ihr sagte. Ihr sagte, was er vorhatte. Ein winziger Augenblick des Zögerns, doch der hatte gereicht um den ganzen Mut zunichte zu machen, den er sich für diesen Anruf zusammengekratzt hatte. Er hatte es einfach nicht fertig gebracht, ihre kleine heile Welt so zu zerstören. Es war feige, das wusste er, und es würde für sie wahrscheinlich viel schlimmer sein, wenn ihr im Nachhinein jemand anders diese Nachricht brachte, trotzdem hatte er sich nicht überwinden können. Nach ein paar kurzen Floskeln hatte er das Gespräch beendet und aufgelegt. Seine Hände zitterten und ihm war schlecht, doch wenigstens hatte der Hustenreiz wieder nachgelassen.
Sollte er sich nicht einfach zusammenreißen, nochmal anrufen und es hinter sich bringen? Mit einem flauen Gefühl im Magen streckte er die Hand aus, um zu wählen, ließ sie dann aber wieder sinken. Es war schon zu spät. Jetzt, wo sein innerer Schweinehund einmal gewonnen hatte, fehlte ihm die Selbstdisziplin, die Entscheidung noch zu ändern. Mit dem Handrücken wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht, dann legte er das Telefon aus der Hand.
„Feigling“, sagte er laut, weil niemand anderer da war, der jetzt die Wahrheit aussprechen konnte. Weil es niemandem außer ihm selbst auf der Welt gab, mit dem er sprechen wollte. Langsam stand er von seinem Küchenstuhl auf, lief ins Schlafzimmer und zog sich ohne zu duschen frische Klamotten an. Körperhygiene spielte jetzt keine übergeordnete Rolle mehr in seinem Leben. Eine dunkelblaue Jeans und ein schwarzes T-Shirt, darüber ein schwarzer Wollpulli – die Klamotten passten wirklich prima zu seiner Stimmung der letzten Tage.
Während er sich dick einpackte, um der Kälte draußen standzuhalten, verabschiedete er sich in Gedanken von seiner Wohnung. Er würde nicht mehr herkommen, nie mehr. Sie konnte ruhig so unaufgeräumt bleiben, was interessierte es ihn schon, wie andere Menschen in Zukunft über seinen Ordnungssinn denken mochten. Er war schon zur Tür hinaus, da hielt er inne und lief noch einmal zurück. Neben dem Bett lag noch immer der Zettel aus der Klinik. Micha bückte sich und steckte ihn in die Hosentasche. Möglicherweise würde er den noch brauchen. Dann machte er sich auf den mühsamen Weg zur U-Bahn, für den er früher immer nur ein paar Minuten gebraucht hatte. Er wusste nicht was ihm mehr Energie geraubt hatte: Der Krebs oder die Tatsache, dass er jetzt wusste, dass er Krebs hatte. Dennoch musste er heute einfach noch etwas unternehmen. Auf den Zoo freute er sich schon richtig, vielleicht würde er dort auch sein schlechtes Gewissen wegen dem Telefonat mit seiner Mutter besser verdrängen können.
Die U-Bahn kam geräuschlos in den Bahnhof gefahren. Nur eine Handvoll Leute warteten hier, der abendliche Verkehr hatte noch nicht wieder angefangen. Die meisten Berliner saßen vermutlich irgendwo in einem Café oder schon in einer Kneipe, wenn sie heute überhaupt das Haus verließen. Micha stand mit den Händen in den Taschen da und fror trotz der scheinbar milden herbstlichen Temperaturen. Zumindest war von den Leuten um ihn herum niemand besonders dick angezogen, oder wirkte als würde er frieren. Als die Bahn hielt, stieg Micha ein und setzte sich in das nächste der langgezogenen Abteile. Die Türen schlossen sich und der Zug beschleunigte augenblicklich. Die mit Kunstfell gepolsterten Sitzbänke waren bequem und noch nicht zu sehr durchgesessen, nur farblich war dieser Zug nicht besonders gut geraten. Das Dunkelrot der Wände passte zwar zum dunklen Boden, aber das ausgeblichene Grün der Polster ließ den Zug alt und ein bisschen schimmlig wirken. Es war vermutlich ein älteres Modell. In diesem Abteil saßen nur zwei andere Leute. Eine junge blonde Frau las in einem zerfledderten Roman und wippte mit ihrem Fuß im Takt zur Musik, die aus ihren überdimensionierten Kopfhörern drang. Neben ihr saß ein Mann, den Micha auf Mitte 40 schätzte. Der Anzug, den er trug, fiel sofort ins Auge. Er war komplett schwarz und saß so perfekt, dass er maßgeschneidert sein musste. Das Material sah sehr teuer aus. Der Mann hatte kurze, schwarze Haare, zwischen denen allerdings schon die ersten grauen Strähnen zu erkennen waren. Sein Gesicht wirkte kantig, aber nicht unfreundlich. Die vielen Falten und tief eingegrabenen Augenringe ließen darauf schließen, dass er sich in seinem Leben nicht viel Ruhe gegönnt hatte. Micha war überrascht. Wenn er sich nicht irrte, saß er hier mit einem Professor oder irgendeinem anderen hohen Tier in einem Abteil, so etwas war ihm noch nie passiert. Auf jeden Fall musste es jemand sein, der in seinem Leben viel gearbeitet hatte. Micha hatte schon seit Jahren niemanden mehr gesehen, der so erschöpft aussah. Die meisten von ihnen nutzten nur die Taxis, vermutlich um nicht mit dem ungebildeten Pöbel in Berührung zu kommen. Doch irgendetwas passte nicht an diesem Mann. Ihm fehlte die typische Mischung von Stolz und Arroganz, die seinesgleichen normalerweise umgab. Er wirkte traurig, fast schon zerbrechlich. Seien Hände spielten nervös mit etwas silbernem. Bei genauerem Hinsehen erkannte Micha, dass es eine Münze war. Er drehte sie immer wieder in seiner Hand, ließ sie über seine Fingerknöchel wandern und danach eine Weile zwischen Daumen und Zeigefinger rotieren. Das wiederholte er wieder und wieder.
Während Micha noch überlegte, was es mit dieser Münze wohl auf sich haben konnte, nahm der Zug eine scharfe Kurve und dem Mann rutschte die Münze aus der Hand. Mit einem dumpfen Geräusch fiel sie zu Boden. Der Mann im Anzug hechtete ihr sofort hinterher, während sie über den Boden kullerte, als handele es sich um einen Gegenstand von unschätzbarem Wert. Doch der Zug war zu schnell für solche Manöver. Er verlor das Gleichgewicht und fiel hin. Die Frau mit den Kopfhörern sah kurz auf, widmete sich dann aber sofort wieder ihrem Roman ohne eine Miene zu verziehen. Micha sah die Münze vorbeirollen, griff zu und erwischte sie gerade noch rechtzeitig. In diesem Moment wurde der Zug langsamer, sie fuhren wohl wieder in einen Bahnhof ein. Während er noch einen kurzen Blick auf die Münze warf, stand Micha auf. Er musste sich am Geländer an der Decke festhalten, um nicht ebenfalls hinzufallen. Er streckte seine Hand aus und half dem Mann auf die Beine, dann gab er ihm seine silberne Münze zurück.
„Danke. Vielen Dank!“, sagte der Mann und lächelte dankbar. Micha nickte ihm einfach nur zu. Der Mann stand noch etwas wacklig auf den Beinen. Er wirkte verlegen und zerstreut. Während er sich nun ebenfalls mit einer Hand am Geländer festhielt, klopfte er sich mit der anderen den Staub von seinem Anzug, den er durch seine Bruchlandung aufgesammelt hatte. Als die Türen sich öffneten, stieg er sofort aus.
Micha nahm wieder Platz. Auf der Münze war das Profil einer Frau abgebildet gewesen, soviel hatte er gesehen. Gerne hätte er den Mann, der offensichtlich noch nie mit der U-Bahn gefahren war, gefragt, wer er war, und was es mit der Münze auf sich hatte, doch der Mann war zu schnell weg gewesen. Vielleicht war die Münze ein Erbstück, oder es war seine Freundin, Geliebte oder Ehefrau, die darauf abgebildet war. Er würde es nie erfahren.
Ihm wurde klar, dass er gerade das erste Mal seit Tagen nicht über die Diagnose, nicht über den Krebs nachgedacht hatte. Ihm kam der Gedanke, dass es wahrscheinlich nicht allzu klug gewesen war, sich die ganzen letzten Tage allein in seiner Wohnung zu verbarrikadieren. Zwar hätte es vermutlich nichts an seiner Entscheidung geändert und schon gar nicht an der Diagnose, aber der Sog des Selbstmitleids hätte ihn wohl weniger stark ergriffen, wenn er sich mehr unter Leute begeben hätte. Wenn er sich mit jemandem über das unterhalten hätte, was sich da in seinem Innersten zusammenbraute.
Am Bahnhof Zoo stieg Micha aus der Bahn und lief nach draußen, seine Gedanken schwankten zwischen seinem Selbstmitleid und Neugier, warum der Mann mit der Münze wohl so traurig ausgesehen hatte. Er nahm einen tiefen Atemzug von der kühlen Herbstluft und spürte im selben Moment, dass das keine gute Idee gewesen war. Augenblicklich fing er wieder an zu husten. Es schmerzte höllisch in seinen Lungen und er brauchte all seine Kraft und Konzentration um sich ein Stück von den Leuten um ihn herum weg zu schleppen. Er wollte nicht, dass jemand sah, dass er Blut spuckte.

Dem Ende entgegen (3)

Einen wunderschönen guten Tag,

es hat eine ganze Weile gedauert, aber jetzt ist der dritte von den elf Teilen der Geschichte endlich fertig. Ich hoffe er wird euch gefallen. Mit etwas Glück kommen die nächsten Teile wieder schneller,

Fühlt euch gegrüßt

Larry deVito

Arno Wilhelm – Dem Ende entgegen – Download Kapitel 1 – 3

Kapitel 3

„Ich will deine Stimme nicht mehr hören, ich will dich nicht sehen, ich will, dass du mich nicht anrufst. Ich brauche einfach Abstand, wenigstens für ein paar Wochen.“
Ihre Stimme klang nicht wütend oder aufgeregt, doch dieser kalte, nüchterne Ton machte Tim mehr Angst, als es ein hysterischer Wutanfall getan hätte.
„Das ist bei mir angekommen, du musst es nicht noch öfter wiederholen. Aber kannst du mir vielleicht verraten, warum? “
„Weil du mich nicht liebst…“
„Helena!“, unterbrach er sie. „Du weißt genauso gut wie ich, dass das nicht stimmt.“
„Lass mich einfach ausreden. Natürlich liebst du mich irgendwie, du hast Gefühle für mich, aber du liebst mich nicht so, wie du deine Arbeit liebst, wie du es liebst dich vor deinen Studenten wichtig zu machen und von ihnen angehimmelt zu werden.“
Ihre Stimme, die gerade eben noch fest und kräftig gewesen war, wurde schwächer und brach ab.
„Es ist nichts Besonderes passiert, während du weg warst. Aber vielleicht ist es gerade das. Es passiert nichts mehr – zwischen uns, meine ich. Irgendwie ist mir das in den letzten Tagen klar geworden und ich glaube, nichts in der Welt, nichts was du sagst, kann das jetzt gerade wieder ins Lot bringen. Ich habe das Gefühl, ich komm schon lange nicht mehr an dich heran. Als ob…“
Sie schien nicht zu wissen, wie sie den Satz vollenden sollte.
„Als ob was?“
Tim hätte nie gedacht, dass der Tag so enden würde. Voller Vorfreude auf Helena hatte er sich durch den Regen gequält, um endlich nach Hause zu kommen. Nur zwei winzige Tage war er weg gewesen, und doch hatte er sie schon so furchtbar vermisst, als wären sie ein halbes Jahr oder noch länger voneinander getrennt gewesen. Doch statt ihrem Lächeln und vielleicht einem vorgekochten Abendessen, hatte ihn im Flur ihrer gemeinsamen Wohnung ein bis an den Rand vollgepackter Koffer erwartet. Sie war im Wohnzimmer gewesen, in seinen antiken Schaukelstuhl gelehnt. Hatte einfach mit einer Tasse Tee in der Hand auf ihn gewartet, und ihm verkündet, dass es aus war.
„Als ob…“, fing sie den Satz ein weiteres Mal an. „Als ob du mich gar nicht mehr kennst.“
„Das ist doch blanker Unsinn. Und das weißt du! Was ist der eigentliche Grund? Was ist passiert während ich weg war?“
Seine Stimmung schwankte zwischen Wut, Trauer und unbeschreiblicher Frustration.
Er sah, dass sie weinte, und wusste nicht, ob er auf sie einreden, sie anschreien, oder sie in Ruhe lassen sollte. Vielleicht würde sie ja in den nächsten Tagen wieder zu Besinnung kommen, und alles wäre wie immer. Statt irgendetwas zu tun, stand er einfach nur da, auf der Suche nach den richtigen Worten, und sah ihr beim Weinen zu.
Und dann war sie weg. Einfach weg. Ein kurzer Abschiedskuss, ein paar gemurmelte Worte, Tränen in ihren Augen, dann die Tür, die ins Schloss fiel. Wie paralysiert war er dagestanden, vollkommen überfordert mit der Situation. Weit von dem Grad an klarem Denken entfernt, dessen er sich sonst so rühmte. Mit zitternden Fingern hatte er sich einen Brandy eingeschenkt und sich in den Schaukelstuhl gesetzt, in dem gerade noch Helena gesessen und auf ihn gewartet hatte. Was war hier passiert? Was für Gründe konnte es haben, dass Helena ihn verlassen wollte oder vielmehr gerade verlassen hatte? Dieser Satz, dass nichts Besonderes passiert sei in den letzten Tagen, war ja sicher nicht ihr Ernst gewesen. Hatte sie sich in einen anderen verliebt? Vielleicht war er wirklich zu viel in der Uni gewesen, aber das war doch nichts Neues. Das war schon als sie sich kennengelernt hatten so gewesen. Er konnte es sich einfach nicht erklären, es nicht begreifen.
Als die Flasche Brandy sich ihrem Ende entgegen neigte, hatte er bereits 14 Nachrichten auf Helenas Mailbox hinterlassen, ihr unzählige E-Mails geschrieben und erfolglos etliche Hotels abtelefoniert, wo ihn freundliche Computerstimmen darauf hingewiesen hatten, dass sie ihm über die Gäste ihres Hauses leider keinerlei Auskünfte geben dürften. Bisher hatte Helena weder zurückgerufen, noch sonst auf irgendeine Art und Weise reagiert. Zu gleichen Teilen betrunken, traurig und verwirrt legte er sich ins Bett und fiel schon bald in einen unruhigen Schlaf, aus dem er immer wieder hochschreckte, nur um Helenas Teil des Bettes verlassen und unberührt neben sich zu sehen.

Tims Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück. Sein Blick schweifte zu dem kleinen Tisch am Fenster. Es war der Tisch, an dem sie auch damals gesessen hatten. An dem Tag, als er Helena den Antrag gemacht hatte. Einerseits kam er sich seltsam pathetisch vor, heute ausgerechnet hier essen zu gehen, andererseits wurde es dem Anlass auf eine ganz eigene Art gerecht. Wieder sah er auf die Uhr, es waren noch fast sechseinhalb Stunden. Seit er das letzte Mal geguckt hatte, waren nur ein paar Minuten vergangen. Das Restaurant in dem er saß, war minimalistisch eingerichtet, aber die Kombination der massiven schwarzen Tische mit den grauen und weißen Wänden hatte eine angenehme Wirkung. Zusammen mit dem gedämpften orangen Licht, das von den Strahlern überall im Raum ausging, sah der Raum geschmackvoll und edel aus. Bei jedem Besuch hier hatte Tim versucht einzuschätzen, ob es wohl damals noch von Menschen eingerichtet worden war, oder ob es Roboter nach Design-Katalogen und Richtlinien bestückt hatten. Bis heute war er sich mit der Antwort nicht sicher.
Aus dem Augenwinkel sah er, wie ein weißes Tablett das den Ausmaßen seines Tisches entsprach, sich wie von selbst in seine Richtung bewegte. Darauf stand sein Essen, ein Glas und eine Flasche Mineralwasser. Ursprünglich hatte vorgehabt, heute etwas außergewöhnliches zu essen. Ein Gericht, das er sich noch nie zuvor bestellt hatte, dazu vielleicht ein seltener Wein aus dem vergangenen Jahrtausend. Doch als er hier angekommen war, hatten ihm die Erinnerungen an Helena und die unzähligen Male, die sie hier zusammen gegessen hatten, den Appetit verdorben und er hatte einfach das Übliche bestellt. Das Tablett hielt direkt neben Tim an und schob sich langsam auf seinen Tisch. Der kleine graue, rechteckige Roboter, der darunter zum Vorschein kam, nutzte seine kleinen Greifarme, um es exakt auf die Tischplatte zu positionieren, dann rollte er wieder Richtung Küche davon.
Das Tablett war aus dünnem weißem Marmor und bildete einen schönen Gegensatz zur schwarzen, glatten Oberfläche des Tisches darunter. Das Essen sah aus wie immer und Tim wusste, dass es perfekt schmecken würde. Wie immer. Die Küchenroboter, die es gekocht hatten, machten keine Fehler, schließlich war dies hier ein nobles Restaurant. In den billigen Imbissen, wo mit veralteten Programmen und betagten, teilweise schrottreifen Robotern gearbeitet wurde, kam es durchaus vor, dass ein Schnitzel angebrannt war, oder ein Braten zu lange im Ofen gelegen hatte. Über diese Probleme hatte Tim im vorletzten Semester Studien durchgeführt, um die Problematik veralteter Technik und mögliche Mittel dagegen analysieren zu können. Doch hier gab es so etwas nicht. Diese Gleichmäßigkeit des Lebens, die er bisher immer so geschätzt hatte, hatte begonnen ihn zu langweilen. Perfektion, die so weit getrieben war, dass es uninteressant wurde. Es hatte schon angefangen, bevor Helena gegangen war, doch in den letzten Wochen fand er überhaupt nichts mehr, woran er sich noch wirklich erfreuen konnte. Er saß in einem der besten Restaurants der Stadt, vor sich ein tadelloses Angus-Steak, einem seiner Lieblingsgerichte, und doch konnte er nicht anders, als in Selbstmitleid und Trauer zu baden.
Eine Stimme hinter ihm riss ihn aus seinen düsteren Gedanken.
„Tim? Dich hab ich ja lange nicht gesehen. Wie geht’s dir?“
Schon bevor er sich umgedreht hatte wusste er, dass es Jakob war, Prof. Dr. Dr. Jakob Linz, um genau zu sein. Ein Kollege von der Uni, mit dem er sich immer gut verstanden hatte, auch wenn sie an verschiedenen Fachgebieten arbeiteten und kaum etwas miteinander zu tun hatten. Halbherzig zwang er seine Mundwinkel zu einem Lächeln als er zu Jakob aufsah, machte sich aber nicht die Mühe aufzustehen, als sie einander die Hand reichten.
„Mir geht es ganz gut. Und dir?“
„Super. Wir haben gerade ein neues Projekt begonnen.“
Jakob lächelte begeistert. In seinem schwarzen Maßanzug mit goldenen Manschettenknöpfen und gold schimmernder Krawatte wirkte er hier trotz der Exklusivität des Restaurants beinahe zu gut angezogen. Ein sportlicher Mann, dessen kantiges Gesicht und krumme Nase nicht so recht zu seinem außerordentlich hohen Intellekt passen wollten. Er wirkte nie wie ein Akademiker, eher als müsste er gleich zurück aufs Rugby-Feld. Beim Gedanken an seine nächsten Forschungen wirkte er stolz und glücklich, voller freudiger Erwartungen.
„Wir wollen die humanoide Neo-Robotik erweitern. Um das zu feiern, war ich mit Laurens und seiner Frau hier essen, die sind aber schon wieder weg. Momentan arbeiten wir zu dritt an dem Projekt. Wenn alles klappt werden wir den Robotern ein breiteres Spektrum an Emotionen und Ausdrucksmöglichkeiten zu geben.“
Tim hatte das Interesse schon nach dem „Super“ verloren. Während Jakob weitersprach, nickte er nur noch, lächelte, und murmelte hier und da unverständliche Laute. Nach ein paar weiteren Sätzen während denen Tim sich keinerlei Mühe gab, dem Monolog seines Kollegen zu folgen, war das Gespräch vorbei und Jakob verabschiedete sich in Richtung Tür.
So war es Tim immer gegangen in den letzten Wochen, bei jeder einzelnen Unterhaltung. Mit Studenten ebenso wie Kollegen. Er wusste, dass ihn ein solches Projekt früher brennend interessiert hätte, wahrscheinlich hätte er Jakob an seinen Tisch gebeten und sie hätten gemeinsam noch stundenlang begeistert darüber diskutiert, was die nächsten Schritte in der Robotik waren und wie das die Wirtschaft und die sozialen Verhältnisse beeinflussen würde. Doch nun versuchte er nur noch jede Form der Unterhaltung zu meiden, oder möglichst schnell hinter sich zu bringen.
Tim starrte auf seinen Teller hinab. Das Steak war mittlerweile kalt geworden. Er aß ein paar Bissen davon, stocherte lustlos im Gemüse und den Bratkartoffeln, dann entschied er sich zu gehen. „Der Appetit kommt beim Essen“, hatte seine Mutter früher immer gesagt, und ihm bei jeder Mahlzeit Nachschlag auf den Teller geschaufelt. Heute war er sich nicht mehr sicher, ob das so stimmte.
Mit einem Schulterzucken schob er den Teller von sich, stand auf, zog sich seinen Mantel an und ging Richtung Ausgang. Wieso war er überhaupt hierhergekommen? Dass dieser Ort der Erinnerungen an seine Zeit mit Helena ihm keine angenehme Stimmung bescheren würde, hätte er sich auch denken können, dachte Tim verärgert. Wie sollte er den weiteren Tag verbringen? Was gab es noch, was er gerne tun wollte? Auf diese Frage hatte er noch immer keine Antwort.
An der Tür angekommen, drückte er seinen Finger auf den Scanner. Das Geld für das Essen würde ihm automatisch vom Konto abgebucht werden. Die Tür schwang auf und eine metallische Stimme verabschiedete ihn mit den Worten:
„Vielen Dank, dass sie unser Gast waren. Beehren Sie uns bald wieder!“
Er hätte nicht hierher kommen sollen, dachte Tim.

Gedichte (105)

Meine Bitte

Etliche Jahre ist es her, dass die Diagnose kam,
Ein Urteil fiel, so folgenschwer, das uns und dir den Atem nahm,
Seit damals bist du mal alleine, mal von helfender Hand gestützt,
Gegangen über Stock und Steine, hast oft gefragt ob es was nützt,
Was es bringt, dich so zu quälen, jeden Tag neu aufzustehen,
Den schweren Lebensweg zu wählen, ohne den Horizont zu sehen,

Ich habe Angst, Angst vor dem Tag an dem du gehst,
Nach dem Ende verlangst, dem Drang nicht länger widerstehst

Doch du hast nicht aufgegeben, ich bin unendlich froh darum,
Manche Momente zu erleben erweckt in mir Bewunderung
Die Freude lebt im Augenblick, im Moment, glücklich und klar,
Wirf keinen müden Blick zurück, wie schwer der Aufstieg oftmals war
Denk dran wie wichtig du uns bist, an jedermann der zu dir steht
Leb so ernst es nötig ist, und so fröhlich wie es geht

Ich bin stolz den Weg zu teilen, ein Weggefährte dir zu sein,
Mit dir in Freundschaft zu verweilen, niemals bist du ganz allein,

Es gibt so manchen Grund zu klagen, doch komm Kleines, wir pfeifen drauf,
Eins wollt ich dir hiermit sagen: Bitte, bitte gib nicht auf!

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Gedichte (104)

Langer Atem

Die zarte Morgenröte
Die am Horizont erglüht
Wo die aufsteigende Sonne
Leuchtend ihren Glanz versprüht

Man hört der Vögel leises Zwitschern
Es rauscht sanft im Blätterdach
Der Himmel blau und wolkenlos
In dem Moment werde ich wach

Dieser Woche zweiter Tag
Schickt sich an, recht zu beginnen
Schließt mit der achten Stunde ab
Bin noch verträumt und wie von Sinnen

Just in diesem Augenblick
Trifft mich der Sonnenstrahlen Schein
Und ein Gedanke zieht vorbei:
So langatmig kann Lyrik sein

Zaubert Bilder für den Leser
Voller Schönheit, voller Macht
In Prosa hieß es kurz und knapp:

Dienstag Morgen, kurz nach acht
Bin gerade aufgewacht.