Dem Ende entgegen (11)

Einen wunderschönen guten Tag,

nun sind wir beim Finale der Geschichte angelangt. Danke für die Reaktionen, danke für die zahlreichen Klicks auf den Blog. Ich hab mich sehr über jede Form von Resonanz gefreut.

Hiermit erscheint „Dem Ende entgegen“ – Teil 11 von 11.

Ich wünsche ein schönes Osterwochenende!

Herzlichste Grüße

Larry deVito

Arno Wilhelm – Dem Ende entgegen – Download Kapitel 1 – 11

Kapitel 11

„Herzlich Willkommen beim PSH, meine Name ist Ingeborg Nolte.“
Tim schüttelte ihr die Hand, setzte sich und betrachtete die alte Dame skeptisch. War das irgendein Prototyp von dem er noch nie gehört hatte? Die meisten Modelle waren jung und entweder darauf getrimmt möglichst neutral auszusehen oder für einen möglichst hohen Bevölkerungsanteil attraktiv zu sein, aber diese Frau entsprach keiner Produktlinie, von der er je gehört hatte. Zu viele Falten, weiße Haare, und diese wachen, braunen Augen mit den tief in die Haut eingegrabenen Lachfältchen daneben. So einen Androiden hatte er noch nie gesehen. Tim versuchte einen Blick auf ihren Ringfinger zu erhaschen, doch dort trug sie einen dicken goldenen Ring, der es unmöglich machte, zu erkennen, ob sie einen Barcode hatte oder nicht. Die alte Frau bemerkte seinen Blick und lächelte.
„Es kommt nicht oft vor, dass wir Akademiker als Kunden haben, aber sie sind auch nicht der Erste.“
Sie zog den Ring vom Finger und präsentierte ihm ihre Hand. Sein irritierter Blick verbreiterte nur ihr freundliches Lächeln.
„Nein, ich trage keinen Barcode und ich bin auch keine Sonderanfertigung, falls sie im Begriff sind, das zu fragen. Ich bin kein Roboter.“
„Aber ich dachte, außerhalb der Unis arbeitet niemand mehr.“
Tim war vollkommen irritiert.
„Es muss niemand mehr arbeiten und das tut auch so gut wie niemand, aber unser Verein hat sich entschieden, diesen Arbeitsplatz nicht mit einem Roboter zu besetzen, solange es noch Menschen gibt, die ihn ausüben wollen.“
Das Lächeln der alten Frau wich einem ernsteren Gesichtsausdruck.
„Aber kommen wir doch lieber zu Ihnen. Erzählen Sie mir, welche Beweggründe sie hergebracht haben. Danach werde ich Ihnen dann ein bisschen was über die Geschichte des PSH erzählen, Ihnen erklären was wir hier machen und wie der heutige Abend ablaufen wird, falls Sie bei Ihrer Entscheidung bleiben.“
Tim räusperte sich und versuchte, nicht mehr auf Frau Noltes Ringfinger zu starren. Er überlegte einen Moment, wo er anfangen sollte.
„Vor drei Wochen kam ich heim und meine Frau saß im Wohnzimmer“, begann er. Er erzählte Frau Nolte alles. Alles was ihm einfiel. Alles was zwischen Helenas Tod und dem Moment passiert war, an dem er die Praxis betreten hatte. Nur das Gespräch mit Micha ließ er aus. Warum, war er sich nicht sicher. Er hatte das Gefühl, es passte nicht ins Bild. Frau Nolte saß die ganze Zeit nur da, nickte hin und wieder und blickte ihm mit ernster Miene in die Augen. Als er mit seinem Bericht geendet hatte, nickte sie erneut und holte eine dünne, schwarze Mappe aus einer Schublade ihres Schreibtischs hervor. Sie schlug die erste Seite auf und drehte sie, so dass Tim das Foto eines weißen Stuhls sehen konnte, der mit Fell überzogen zu sein schien.
„Sollten Sie sich nachher entscheiden, den letzten Schritt zu gehen, finden Sie hinter der schwarzen Tür, die Sie im Wartezimmer bereits gesehen haben diesen Stuhl.“
Frau Nolte zeigte auf eine der Armlehnen.
„Rechts sind zwei kleine Knöpfe angebracht. Einer grün, der andere rot. Wenn Sie den roten Knopf drücken, wird Ihnen mittels mehrerer winziger Nadeln, die aus dem Stuhl ausgefahren werden können, ein starkes Sedativum injiziert und gleich darauf ein hochkonzentriertes Nervengift, das zum sofortigen Herzstillstand führt. Das Sedativum ist nötig um sicherzustellen, dass Sie keinerlei Schmerzen dabei empfinden. Am besten krempeln Sie ihre Hosenbeine ein Stück hoch, und legen ihre Arme flach auf die Lehnen, damit die Injektionsnadeln auch die Haut treffen. Drücken Sie stattdessen den grünen Knopf, öffnet sich eine Tür direkt nach draußen, dort beginnt ein kleiner Park, der zu unserem Grundstück gehört. Da sind sie ungestört. Haben Sie dazu noch Fragen?“
„Kann ich, wenn ich mich dagegen entscheide, nicht einfach wieder durch die Tür hinaus gehen?“
Frau Nolte setzte ein mildes Lächeln auf.
„Die Tür verschließt sich hinter ihnen automatisch, damit hier niemand hereinspazieren kann und zum Stuhl laufen, der keinen Termin hat. Darum können Sie auch nicht einfach so wieder raus. Außerdem haben wir die Erfahrung gemacht, dass die meisten Menschen in diesem Moment froh um ein wenig Diskretion sind. Es könnte ja schon der nächste im Wartezimmer sitzen, sie verstehen?“
Tim nickte. Es fühlte sich komisch an, dieses Gespräch. Die Vorbereitung des eigenen Todes. Er hatte diesem Termin geradezu entgegen gefiebert, sich darauf gefreut, die ganze Last loszuwerden, doch im Moment spürte er nur ein bedrückendes Gefühl der Unsicherheit. Die Entscheidung war endgültig, es würde kein zurück geben. Gab es noch irgendetwas, was er von Frau Nolte wissen wollte? Ihm fehlten die Fragen. Während er noch seinen Gedanken nachhing, begann die alte Dame wieder zu sprechen.
„Ich wollte Ihnen noch etwas zur Geschichte des Vereins erzählen. In aller Kürze: Den Praxisverbund gibt es seit dem Jahre 2021 in Deutschland. Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, den Leuten, die aus dem Leben scheiden wollen, ein würdevolles Ende zu ermöglichen. Noch sind wir nicht so flächendeckend vertreten wie es uns recht wäre, aber es wird besser.“
Sie hielt einen Augenblick inne und schien über ihre nächsten Worte nachzudenken.
„Ichch muss Ihnen ehrlich sagen: Ganz sicher bin ich mir nicht, ob Ihr Grund ausreichend ist, um ihrem Leben ein Ende zu setzen.“
Tim starrte sie an. Unsicher, ob er gerade richtig gehört hatte.
„Aber ich…“
„Sie haben mir schon ausschweifend ihre Gründe dargelegt, warum Sie das möchten.“
Frau Nolte betonte das letzte Wort so langsam, als unterhielte sie sich mit einem Idioten, dachte Tim.
„Unsicher bin ich mir, ob es ein guter Grund ist. Ob es tatsächlich nötig ist, darum aus dem Leben zu scheiden, das ist es, woran ich zweifle.“
Micha hatte in dem Gespräch vorhin nichts davon gesagt, dass Frau Nolte versucht hätte, ihn von seiner Entscheidung abzubringen. Aber Micha hatte auch erzählt, dass sie bei ihm Wert darauf gelegt hatten, dass er pünktlich zu seinem Termin kam. Bei ihm hatte es keine Wartezeit gegeben. Irgendetwas stimmte hier nicht, dachte Tim, aber ihm war nicht ganz klar, was es war. Er schüttelte den Gedanken ab.
„Ich werde Sie definitiv nicht aufhalten. Setzen Sie sich ins Wartezimmer oder gehen Sie durch die schwarze Tür, setzen sich auf den Stuhl und denken Sie noch mal in Ruhe über alles nach. Ich verstehe, dass der Verlust schmerzhaft für Sie ist, aber glauben Sie mir, ich habe genug Verluste erlitten in meinem Leben. Es kommen auch wieder bessere Zeiten, in denen es weniger weh tut.“
Tim war sprachlos. Mit so einer Ansprache hatte er nicht gerechnet. Verständnis und Diskretion, ja, aber doch keine Kritik. Vor ihm erhob sich Frau Nolte aus ihrem Stuhl und streckte ihm die von Altersflecken übersäte Hand entgegen.
„Egal wie Sie sich entscheiden, ich hoffe es wird die richtige Entscheidung für Sie sein.“
Er stand ebenfalls auf, reichte ihr die Hand, noch immer ohne ein Wort zu sagen. Wie betäubt drehte er sich um und ging langsam zur Tür. Als er die Türklinke herunterdrückte und gerade den Raum verlassen wollte, fügten sich in seinem Kopf zwei Bausteine zusammen, die die ganze Zeit störend und sinnlos in den Weiten seines Kleinhirns herumgestanden hatten. So ergab es Sinn. Er drehte sich wieder zu Frau Nolte um, die ihn mit hochgezogenen Brauen ansah.
„Es war kein Zufall, oder?“
Sie blickte überrascht.
„Was war kein Zufall?“
„Das Zusammentreffen mit diesem Micha im Wartezimmer. Dass er einen richtigen Termin kriegt und ich eine Wartezeit. Das waren keine Zufälle oder Systemfehler. Sie haben ihn in seiner Entscheidung bestärkt und versuchen, mich von meiner abzubringen.“
In dem Lächeln auf Frau Noltes Gesicht war ein Hauch Schuldbewusstsein zu erkennen.
„Sie sind ein kluger Mann, Herr Fischer“, sagte sie.
Ihr Lächeln verärgerte Tim. War das hier ein Spiel für sie? Ein Witz?
„Aber Sie können doch nicht einfach…“
„Natürlich können wir“, unterbrach sie ihn. „Herr Dorfer, oder Micha, wie Sie ihn genannt haben, hatte eine schwere, finale Krankheit. Bei Ihnen ist der Grund seelischer Natur, da versuchen wir selbstverständlich herauszufinden, wie ernst es Ihnen eigentlich damit ist, zu sterben. Nicht aus Bosheit, sondern weil wir glauben, dass das Leben auch nach tragischen Einschnitten weitergehen kann. Regen Sie sich nicht unnötig auf, es geht nicht gegen Sie. In kritischen Zeiten ist es manchmal einfach schwer, Entscheidungen zu treffen. Setzten Sie sich ins Wartezimmer oder in den Raum nebenan und denken Sie in Ruhe über alles nach. Sie haben die Wahl.“
Es gab noch einiges, das Tim auf der Zunge lag, doch er hielt sich zurück. Er wollte die Dame nicht beleidigen. Sie hatte wahrscheinlich wirklich nur Gutes im Sinn gehabt. Stumm wandte er sich wieder um und ging nach draußen.

Das Wartezimmer war leer. Micha war nicht mehr da, doch auf seinem Stuhl lag ein kleiner, silberner Gegenstand, der Tim sofort ins Auge fiel. Wie hatte er nur die Münze vergessen können? Die ganzen letzten Tage über hatte er sie immer wieder in der Hand gehabt, so viel mit ihr gespielt und nun hatte er sie tatsächlich bei einem völlig Fremdem gelassen. Das Gespräch hatte ihn wohl einfach zu sehr durcheinander gebracht. Er nahm die Münze wieder an sich und drehte sie in der Hand hin und her. Helenas Bild rief jedes Mal wenn er es betrachtete so viele Erinnerungen in ihm wach. So wunderschöne Erinnerungen.
Spontan entschied er sich nicht hier im Wartezimmer Platz zu nehmen, er wollte heute niemandem mehr begegnen, der ihm erzählen konnte, dass sein Plan falsch war. Tim trat durch die schwarze Tür in den kleinen Raum dahinter.
Als sich seine Augen an das gedimmte, orange Licht gewöhnt hatten, betrachtete er in Ruhe die Gemälde, die an den vier Wänden hingen. Es waren schöne, professionelle Aufnahmen. Ob Helena wohl auch hier gewusst hätte, wer die Fotos gemacht hatte? Er konnte ein Meisterwerk der Fotografie nicht von einem gut gelungenen Urlaubsfoto unterscheiden und hatte sich nie die Mühe gemacht, sich damit zu beschäftigen. Erst als er in aller Ruhe die Bilder begutachtet hatte, wandte er seinen Blick zu dem Stuhl in der Mitte des Raumes, den er eben schon auf dem Foto gesehen hatte. War Micha hier vor ein paar Minuten gestorben? Oder hatte er die Praxis auf anderem Wege verlassen? Für einen kurzen Moment fragte er sich, ob Micha vielleicht nicht einfach ein Schauspieler gewesen sein könnte, mit dem Auftrag, ihn von seinen Plänen abzubringen, aber das war unwahrscheinlich. Er hatte schon am Nachmittag als sie sich gesehen hatten, ebenso ausgezehrt und am Ende gewirkt wie heute Abend in der Praxis. Das wäre zu viel Aufwand gewesen, niemand hatte ein so starkes Interesse daran, dass er überlebte. Kaum jemand würde Anteil daran nehmen, dass er nicht mehr da war. Er ging zu dem Stuhl.
Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, als er sich darauf niederließ. Wie viele Menschen hier wohl schon gestorben waren? Mit den Fingerspitzen strich er ganz vorsichtig über die kleinen Knöpfe in grün und rot, die am Ende der Armlehnen angebracht waren, darauf bedacht, keinen von ihnen auszulösen. In der anderen Hand hielt er noch immer die Münze. Unglaublich, dass er sie bei Micha gelassen hatte. So zerstreut wie heute war er selten gewesen.
Warum hatte er Micha so viel von sich erzählt? Vielleicht hätte er schon in den letzten Wochen jemanden zum Reden gebraucht und weil er niemanden fand am Ende Micha und Frau Nolte sein Herz ausgeschüttet. Aber wieso hatte er ihm nicht von der Trennung erzählt? Wieso nicht die ganze Geschichte? Schämte er sich für das, was passiert war? Wollte er sich in einem besseren Licht darstellen? Sich weniger schuldig fühlen für Helenas Tod? Seine Finger berührten das Plastik der beiden Knöpfe. Grün und Rot. Leben und Sterben. Es war ein bizarres Gefühl, dem Tod so nahe zu sein. Er widerstand der Versuchung, einfach sofort zu drücken, Helena zu folgen und dem elenden Nachdenken ein Ende zu setzen. Die Gespräche mit Frau Nolte und Micha hatten ihn zutiefst verunsichert. Natürlich war Michas körperliches Leiden etwas ganz anderes als der Verlust, den er erlitten hatte. Aber war es wirklich Unsinn, was er hier tun wollte? Sein Bedürfnis zu sterben war seit Helena nicht mehr da war unendlich groß geworden, immer noch größer. Würde es wirklich irgendwann vergehen? Er wollte nicht zu seinem alten Leben zurück, nicht wieder an die Uni, aber er konnte nicht bestreiten, dass Micha recht hatte. Er musste es letzten Endes auch nicht. Es gab kein Gesetz, das besagte, dass man ein Leben lang an der Uni bleiben musste. Auch er konnte sich eine Rente auszahlen lassen. Eigentlich hatte er nie wirklich darüber nachgedacht, den Job hinzuschmeißen, aber es war die richtige Idee.
War es im Zweifel besser, sein Leben lang zu trauern, als sein Leben zu beenden? Vielleicht. Oder nicht? Er hatte sich so sehr den Tod gewünscht, er vermisste Helena so sehr, so schrecklich schmerzhaft. Wie könnte er ohne sie weiterleben? Es hatte ihm geholfen, dass er endlich erzählt hatte, was in ihm vorging, aber was nun? Würde es besser werden? Er spürte, dass ihm dieser Stuhl unbehaglich war. Der Raum machte ihn nervös. Es wurde langsam Zeit. Zeit, etwas zu tun.
Vorsichtig legte er Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand auf je einen der Knöpfe.
Er musste eine Entscheidung treffen und tat es schließlich auch. Sein Finger drückte auf den Knopf.
Hinter ihm ertönte ein metallisches Klicken. Als er sich umsah, entdeckte er einen Spalt, durch den Licht herein fiel. Er stand aus dem Stuhl auf, betrachtete ihn einen letzten Augenblick. Dann wandte er sich ab.
Eine schmale Tür, die mit Tapete bedeckt war, hatte sich am Ende des Raumes geöffnet. Tim trat hinaus und sah vor sich ein Wäldchen, genau wie es Frau Nolte beschrieben hatte. Kleine Lampen, die ihm bis zum Knie reichten, säumten einen Waldweg, der zwischen die Bäume führte. Tim atmete tief durch und begann zu laufen. Einfach zu laufen. Irgendwann würde der Waldweg enden und er würde alles hinter sich lassen. Vielleicht würde er sogar Berlin in naher Zukunft verlassen, nur einige wenige Sachen und die Fotoalben mitnehmen, damit er sich immer an Helena erinnern konnte. Darüber konnte er sich in den nächsten Tagen Gedanken machen. Jetzt hatte er ja Zeit. Beim Laufen spürte er, dass etwas in seiner hinteren Hosentasche steckte und er tastete danach. Es war der Brief von Anna, den sie ihm heute geschrieben hatte. Er musste an ihre Liebeserklärung darin denken. Nein, er würde sich nicht bei ihr melden und er würde ihr auch niemals näher kommen. Die Wunden, die Helenas Tod geschlagen hatte, waren zu tief. Die Lücke, die sie hinterließ zu groß. Er war sich nicht einmal sicher, ob er jemals einen anderen Menschen lieben könnte, noch dazu war Anna viel zu jung und eine Studentin. Aber es war auf eine seltsame Art schön, zu wissen, dass es einen Menschen gab, der an ihn dachte. Einen Menschen, dem er nicht egal war.
Während er den Weg weiterlief, spürte Tim eine gewisse Erleichterung. Er ging einem neuen Leben entgegen. Es fühlte sich richtig an.

Dem Ende entgegen (10)

Guten Tag allerseits,

ich vermute, mit der Geschichte wird es noch diese Woche zuende gehen. Kommen wir also zum vorletzten Teil von „Dem Ende entgegen“.

Ich hoffe er wird euch gefallen und wer Zeit hat, kommt morgen Abend zum Dichtungsring im Laika in Berlin.

Viele herzlichste Grüße
Larry deVito

Arno Wilhelm – Dem Ende entgegen – Download Kapitel 1 – 10

Kapitel 10

Als die Tür ins Schloss fiel lehnte Micha sich in seinem Stuhl zurück. Als Teenager war er oft mit Freunden und Bekannten im Urlaub zum Klippenspringen gegangen. Das Gefühl, am Rand einer sehr hohen Klippe zu stehen und nach unten ins Wasser zu blicken, ähnelte dem, was er im Augenblick empfand, sehr. Er wusste, er würde den letzten Schritt tun, doch noch rang er mit sich selbst, um den richtigen Zeitpunkt zu finden. Was für eine seltsame Unterhaltung das eben gewesen war, dachte er. Sein Gefühl sagte ihm, dass er mit seiner Ansprache irgendwas in Tim bewirkt hatte. Ob das reichen würde, um ihn von dem Grund, aus dem er hier war, abzubringen? Sicher war er sich nicht, doch zu wissen, dass er versucht hatte, jemandem vor einem so großen Fehler zu bewahren, gab ihm ein gutes Gefühl. Vielleicht war das der Sinn, nachdem er in den vergangenen Tagen gesucht hatte. Auf seinem letzten Weg jemand anderem zu helfen, damit dieser seinen Weg änderte. Er würde nie erfahren, ob er etwas bewirkt hatte.
Es war ein angenehmer Zufall gewesen, dass sie sich hier ein zweites Mal über den Weg gelaufen waren. Seit seiner Diagnose hatte er mit niemandem darüber geredet. Es Tim zu erzählen hatte ihn erleichtert und ihm ein wenig seine Angst genommen. Auch Frau Nolte, die alte Frau im Sprechzimmer, hatte sehr verständnisvoll gewirkt. Das Gespräch mit ihr war angenehm gewesen. Ohne Vorwürfe, ohne Zeitdruck oder Smalltalk.
Er musste an seine Eltern denken. Hätten sie vielleicht auch so reagiert, wenn er es ihnen doch selbst gesagt hätte? Wann seine Mutter wohl den Brief fand? Hoffentlich erlitt sie davon keinen Herzinfarkt, das wäre furchtbar. Sein Vater hätte alleine keine Chance, der bekam sein Leben ohne seine Frau nicht auf die Reihe. Genau genommen wusste er nach all den Jahren in dem Haus bis heute nicht einmal, wo seine Socken zu finden waren. Beim Gedanken daran, dass seinen Eltern wegen ihm etwas zustoßen könnte, spannte sich Michas ganzer Körper an.
Er spürte, als sich seine Hände verkrampften, dass seine rechte Hand etwas umklammerte. Als er hinab sah, bemerkte er, dass er immer noch Tims silberne Münze in der Hand hielt. Er hatte vergessen, sie ihm zurückzugeben, nachdem er sie in Augenschein genommen hatte. Auf beiden Seiten waren Menschen im Profil eingraviert. Bei der einen Seite vermutete er, dass es sich um einen deutlich jüngeren Tim handelte. Dann musste das auf der anderen Seite seine Frau sein. Im Profil konnte Micha nicht genug erkennen, um sagen zu können, ob sie eine hübsche Frau gewesen war. Es musste ein tolles Gefühl sein, einen Menschen so sehr zu lieben.
Am Rand der Münze stand ein Datum und in feinen, winzigen Buchstaben war „T.F. & H.F.“ eingraviert. Tim und H. Fischer. Wofür das H wohl stand? Er spürte ein wenig Neid gegenüber Tim, für die vielen Jahre, die er gehabt hatte und vielleicht noch haben würde. Neid auf all das, was Tim mit seiner Frau erlebt hatte. Ob sie sich wohl Kinder gewünscht hatten? Vermutlich gab es keine, sonst hätte Tim sicher noch mehr Gründe gehabt, weiterzuleben, auch nach dem Tod seiner Frau. Er wirkte nicht wie der Typ, der seine Kinder im Stich ließ. Er hatte nur sehr unglücklich gewirkt und von Trauer und Schlafmangel zermürbt. Hoffentlich änderte er seinen Plan noch.
Micha gab sich alle Mühe, den immer wieder aufkommenden Hustenreiz zu unterdrücken. Mittlerweile brannten seine Lungen bei jedem einzelnen Atemzug wie Feuer. Gut, dass er heute einen Termin bekommen hatte und nicht erst in ein paar Tagen. Möglicherweise hätte er dann schon nicht mehr die Kraft dafür gehabt. Die Kraft für das, was jetzt zu tun war.
Er raffte sich auf, legte die Münze auf einen Stuhl neben sich, stand auf und ging zur schwarzen Tür am Ende des Zimmers. Zuerst legte er die Hand auf die Klinke und spürte das kalte Metall. Er drückte sie langsam herunter und öffnete den Durchgang zu einem kleinen, von einer Lampe an der Decke schwach mit orangem Licht ausgeleuchteten Raum. Die Einrichtung nahm er nur schemenhaft wahr. Das weiße Licht des Wartezimmers bildete zur Dunkelheit dieses Raumes einen starken Kontrast. Als er eintrat fiel die Tür hinter ihm von alleine ins Schloss. Sein Herz begann wieder schneller zu pochen. Ein neuer Hustenanfall brach sich Bahn und zwang Micha für einen kurzen Moment in die Knie, doch dieses Mal ging es schnell vorbei. Als er sich wieder aufrichtete, hatten sich seine Augen gut genug an das Licht gewöhnt, dass er die Einrichtung des Raumes genauer erkennen konnte. An den Wänden hingen große Leinwände, größer als die im Wartezimmer, die verschiedene Landschaftsaufnahmen zeigten. An einer Zimmerseite konnte Micha Bilder vom Grand Canyon erkennen, an dessen Rand war er letztes Jahr noch selbst gestanden. Die anderen Wände waren mit Strand- und Dschungelphotos behangen. In der Mitte des Raumes stand ein weißer, gepolsterter Stuhl mit breiten Armlehnen. Auf der rechten Seite waren am Ende der Armlehne zwei kleine Knöpfe angebracht, genau wie es Frau Nolte ihm beschrieben hatte. Micha atmete tief durch. Der Gedanke, dass er gleich sterben würde, war so unwirklich, so schwer zu verstehen. Ein Knopfdruck und er setzte seinem Leben ein Ende. In der Schule hatte man ihnen in Geschichte von Piloten erzählt, die im Krieg Kampfflugzeuge geflogen hatten, daran konnte sich Micha noch gut erinnern. Hatte er nicht sogar ein Referat darüber gehalten? Diese Piloten hatten ebenfalls kleine Knöpfe gehabt, um Raketen oder Bomben abzufeuern. Auch sie hatten per Knopfdruck über Leben und Tod entschieden, genau wie er es gleich tun würde. Nur war es bei ihnen nicht darum gegangen, über ihr eigenes Leben zu entscheiden, sondern über das irgendwelcher anonymer Opfer. So ähnlich und doch so unterschiedlich. Was es wohl für ein Gefühl gewesen war, etwas so furchtbares per Knopfdruck zu tun? Wenigstens hatte er einen guten Grund für das was er tat und es kam niemand anderer dabei zu Schaden.
Micha setzte sich hin und krempelte seine Hosenbeine ein Stück hoch, genau wie Frau Nolte es ihm erklärt hatte. Dann lehnte er sich in dem Sessel zurück. Der weiße Bezug schien aus einer Art Fell zu sein, er war sehr weich und bequem. Er ließ seine rechte Hand über den beiden Knöpfen schweben, nur wenige Zentimeter davon entfernt, die letzte Entscheidung seines Lebens zu treffen.
Den ganzen Tag über hatte Micha Angst vor diesem Moment gehabt. Angst davor, dass er es nicht schaffen würde, Angst zu versagen. Selbst bei dem Letzten was er auf Erden tun wollte, bei der selbstbestimmten Wahl, seinem Leben ein Ende zu setzen, nicht seinen Erwartungen gerecht zu werden. Frau Nolte hatte nur genickt, als er ihr das gesagt hatte und ihn mit ihrem von Falten durchzogenen Gesicht ernst angesehen.
„Sie müssen hier niemandem etwas beweisen“, hatte sie gesagt. „Das ist keine Prüfung, keiner hat Erwartungen, die sie erfüllen müssen.“
Doch was ihm tatsächlich Ruhe gebracht hatte, war das Gespräch mit Tim gewesen. Zu sehen, wie er auf die Nachricht reagierte, dass Micha Krebs hatte, und zu hören, aus was für banaleren Gründen jemand das Bedürfnis haben konnte, zu sterben. Und weil er das Gefühl hatte, Tim geholfen zu haben. Vielleicht hatte er es geschafft, seine Perspektive ein Stück gerade zu rücken. Egal wie schlimm der Verlust für Tim war, er war gesund und konnte für den Rest seiner Tage das Andenken an seine Frau wahren, ohne dass er deswegen selbst seine restliche Zeit auf Erden wegschmeißen musste.
Micha ließ seine Hand noch immer in der Luft über den zwei Knöpfen. Alles in allem war es doch ein guter Tag gewesen. Besser als erwartet. Besser, als es sich zwischendurch angefühlt hatte. Er musste an seine Eltern denken. Hoffentlich würden sie es gut verkraften, was mit ihrem einzigen Sohn geschehen war. Er hatte gehört, wenn jemand starb, bekam man von einem Androiden einen schwarzen Briefumschlag mit der Todesnachricht überbracht. Das war bestimmt ein Mythos. Einer von vielen.
Er betrachtete die Knöpfe. Einer von ihnen war grün, der andere rot. Langsam, mit ganz vorsichtigen Bewegungen, um keinen weiteren Hustenanfall zu provozieren setzte sich Micha aufrecht hin, legte seine Arme flach auf die Lehnen und atmete tief durch. Es wurde Zeit zu springen. Wie sich wohl dieses Mal das Meer anfühlen würde, wenn er durch die Oberfläche brach?
Beim Gedanken an die Sommer seiner Jugend lächelte er.
Er hielt den Atem an und ließ den Zeigefinger seiner rechten Hand langsam aber bestimmt auf den kleinen, roten Knopf sinken.

Dem Ende entgegen (9)

Einen wunderschönen guten Tag,

nun beginnt das Finale der Geschichte.
Ich hoffe sehr, dass es euch gefallen wird.
Hier kommt Teil 9 von 11 der Erzählung „Dem Ende entgegen“,
der bisher mit Abstand längste Teil.

Viele Grüße,
Larry deVito

Arno Wilhelm – Dem Ende entgegen – Download Kapitel 1 – 9

Kapitel 9

Das Bild hing schief. Ausgerechnet das fiel ihm hier als Erstes auf.
Tim hatte sich auf einem der Stühle im Wartezimmer der Praxis niedergelassen. An der Wand, die ihm nun gegenüber lag, hing eine weiße Leinwand, auf der ein großes schwarzes Reckteck abgebildet war. In diesem Rechteck waren vier kleine weiße Kreise vermutlich willkürlich angeordnet. Zumindest konnte Tim kein Muster und keine Regelmäßigkeit darin erkennen. Helena hätte ihm sicher erklären können, wer das Original dieses Bilds gemalt hatte, wie viele Nachbildungen es davon gab und was der Künstler mit dieser Anordnung ausdrücken wollte. Es war ihr größtes Hobby gewesen, sich mit Kunst zu beschäftigen, Ausstellungen zu betrachten und Bilder zu analysieren. Oft genug hatte sie ihn mit ihrer Leidenschaft für die Kunst genervt. Ihn überzeugt, mit ihr in die Ausstellungen zu gehen und sich ihre Erklärungen zu jedem einzelnen Bild anzuhören. Jetzt vermisste er ihre Stimme und ihre Anwesenheit mehr als alles andere. Er hätte alles gegeben, um sie hier zu haben und sich von ihr erzählen zu lassen, warum auf dem Bild ausgerechnet ein Rechteck war und ob es nun für Liebe, Leidenschaft, Tod oder den Verfall in der Welt stand. Wenn sie nur hier gewesen wäre, bestimmt hätten sie ihre Beziehung neu beleben können. Dieses spezielle Bild hätte er sicherlich nie zu Gesicht bekommen, wenn sie tatsächlich noch da gewesen wäre, aber es gab so viele Bilder und Museen und Vernissagen auf die sie gehen könnten, es gab so viel zu sehen.
Er hatte wieder begonnen, mit der silbernen Münze zu spielen. Dieses Mal nicht, weil er seine Aufregung unterdrücken wollte, denn er fühlte sich im Augenblick entspannter, als an irgendeinem Tag der letzten Wochen. Er hatte die Münze hervorgeholt, um sich die Zeit zu vertreiben. Bisher wartete er zwar erst wenige Minuten, es war nicht einmal fünf nach Acht, doch die Computerstimme am Telefon hatte ihn schon darauf vorbereitet, dass seine Wartezeit möglicherweise etwas länger sein würde. Es war ein eigenartiges Telefonat gewesen. Zuerst musste man wählen, ob man aus gesundheitlichen oder persönlichen Gründen einen Termin wollte, dann wurde einem ein möglicher Termin genannt und zum Schluss war der Hinweis gekommen, dass es eventuell zu längeren Wartezeiten kommen konnte. Warum gaben sie ihm dann nicht gleich einen späteren Termin? Vielleicht ein Programmierfehler in dem Algorithmus, der die Terminvergabe regelte und irgendein Genie hatte, statt den Fehler zu reparieren, diese Ansage eingebaut.
Die linke der beiden Türen am Ende des Zimmers öffnete sich in diesem Moment und riss Tim aus seinen Gedanken. Ein Mann trat in das Wartezimmer. Als Micha ihn sah, zog er überrascht die Augenbrauen hoch.
Es war der junge Mann aus der U-Bahn, der ihm nach seinem Sturz wieder aufgeholfen hatte. Die Haut um seine Augen herum war gerötet, wahrscheinlich hatte er geweint. An seinem Kinn und auf seinem T-Shirt waren Flecken, die nach getrocknetem Blut aussahen. Hinter ihm schloss sich die weiße Tür wieder. Er blickte Tim an und ein gequältes Lächeln erhellte kurz sein müde und kaputt wirkendes Gesicht. Mit einer kurzen Kopfbewegung grüßte er und ließ sich dann auf einem Stuhl schräg gegenüber von Tim nieder. Die Stille, die daraufhin eintrat, war Tim sehr unangenehm. Er hatte das Bedürfnis, etwas zu sagen, um sie nicht noch länger werden zu lassen.
„Ich habe Sie doch heute schon einmal getroffen“, sagte er dann halblaut und sah dem jungen Mann in die Augen. „Oder verwechsle ich sie?“
Sein Gegenüber schien kurz zu zögern. Dann nickte er.
„Ich heiße Micha“, sagte er und wies mit einer Geste in den leeren, strahlend weißen Raum des Wartezimmers. „Wo wir schon beide hier sind, denke ich, dass wir uns auch duzen können.“
„Ja, das stimmt wohl. Kaum zu glauben, dass wir uns an einem Tag zweimal treffen. Und dann auch noch ausgerechnet hier.“
Micha nickte einfach nur. Wieder breitete sich diese Stille aus, die gewaltig und kaum zu ertragen mitten im Raum zwischen ihnen stand. Michas Augen sahen traurig aus und müde. Vielleicht sollte er ihn in Ruhe lassen, andererseits hatte er im Augenblick durchaus das Bedürfnis, sich mit jemandem zu unterhalten. Dieses sterile, helle Wartezimmer hatte nicht gerade eine entspannende Wirkung auf ihn.
„Wieso bist du hier?“
Es war die erste Frage, die Tim in den Kopf kam, aber schon in dem Moment als er sie ausgesprochen hatte, kam er sich sehr taktlos vor. Man fragte doch niemanden den man nicht kannte, warum er sterben wollte. Eigentlich fragte man das überhaupt niemanden. Auch Micha sah in zweifelnd an, er schien zu überlegen, was er darauf antworten sollte.
„Ich meine…“, versuchte Tim ein wenig zurück zu rudern. „…wozu du hier bist ist mir schon klar. Ich will dir auch nicht zu nahe treten. Aber du bist noch so jung und da habe ich mich gefragt, wie es wohl dazu kommt… Verstehst du, was ich meine?“
Er versuchte, eine entschuldigende Miene aufzusetzen. Noch immer spielte seine Hand nervös mit der Münze. Micha starrte noch ein paar Sekunden ins Leere und überlegte.
„Vor drei Wochen habe ich erfahren, dass ich Krebs habe“, sagte er dann leise und tonlos, ohne Tim anzusehen. „Ich habe ständig Schmerzen, huste Blut und habe keine Chancen auf Heilung. In knapp zwei Monaten wäre es eh vorbei.“
„Das tut mir leid“, sagte Tim und es stimmte. Auch wenn er in den letzten Wochen so gut wie kein Interesse am Leben anderer Menschen gehabt hatte, berührte es ihn, einen so jungen Menschen leiden zu sehen. Krankheit sollte den Älteren vorbehalten sein, dachte er.
„Und du?“ Micha schien ein wenig seine Fassung wiedergewonnen zu haben. „Was ist es bei dir?“
„Ich bin nicht krank. Zumindest soweit ich weiß.“ Tim überkam das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen.
„Aber wieso bist du dann hier?“
„Meine Frau…“ Er zögerte einen Moment. Seit Helenas Tod hatte er mit niemandem darüber geredet. Wieso sollte er es mit diesem jungen Mann tun, den er nicht mal kannte? Möglicherweise war es aber auch eine gute Idee, schließlich hatte er vor keinem seiner Bekannten und Freunde geschafft, es auszusprechen. Er setzte wieder an. „Sie ist vor drei Wochen bei einem Autounfall gestorben.“
„Verstehe.“ In Michas ernstem Blick konnte Tim nichts von diesem Verständnis erkennen. „Und weiter?“
Tim fand die Frage sehr unhöflich, aber schließlich war er es gewesen, der mit dem Frage-Antwort-Spiel begonnen hatte, auch wenn es ihm im Augenblick nicht besonders angenehm war.
„Seitdem sie nicht mehr da ist, hat das Leben für mich einfach keinen Sinn mehr. Das Essen schmeckt nicht mehr. Die Arbeit macht keinen Spaß mehr. Nichts interessiert mich. Ich…“
Ein lauter Hustenanfall von Micha unterbrach ihn. Der hielt sich die Hand vor den Mund, während der Husten ihn erbeben ließ. In seinem Blick und seinen Bewegungen konnte Tim nur zu gut die Schmerzen sehen, die durch seinen ganzen Körper zuckten. Als er die Hand weg zog, konnte Tim auf der Handfläche ein paar kleine Blutstropfen erkennen. Nach dem gequälten Ausdruck in Michas Gesicht zu urteilen, musste er schreckliche Schmerzen haben.
Eine gefühlte Ewigkeit saß er einfach nur da, atmete flach und bei jedem Ausatmen konnte Tim ein leises Fiepen seiner Lungen hören. Er spürte, dass es besser war, jetzt nichts zu sagen.
„Unsinn“, sagte Micha dann leise. Seine Stimme klang rauer als vor dem Husten und noch leiser.
„Was meinst du?“
„Das ist doch völliger Unsinn.“ Sein Tonfall klang, als spuckte er Tim die Worte vor die Füße. Er setzte sich auf und versuchte, mehr Luft in seine Lungen zu bekommen. „Das was du gesagt hast. Ist doch klar, dass es schlimm ist, wenn deine Frau stirbt, aber deswegen musst du doch nicht auch sterben. Du bist doch gesund.“
Was bildete sich dieser Micha eigentlich ein? Als ob er sich vorstellen könnte, wie sich Tim in diesem Augenblick fühlte. Wie schlimm es war, wenn einem der wichtigste Mensch im Leben genommen wurde. Klar, er war jung und machte gerade eine schlimme Zeit durch, aber das gab ihm doch kein Recht, Tims Entscheidung zu Beurteilen. Zu bewerten, ob er hier sein sollte oder nicht.
„Das verstehst du nicht.“
Er versuchte, sich seinen Ärger nicht anmerken zu lassen. Dem Jungen ging es schlecht genug, er musste nicht mit ihm streiten.
„Dann erkläre es mir doch.“
„Ich habe mit Helena so viele schöne Jahre verbracht, ich möchte und kann einfach nicht ohne sie leben. Ohne mit ihr sprechen zu können, ohne zu hören, wie ihr Tag war. Mein ganzes Leben interessiert mich nicht mehr. Nichts um mich herum. Ich bin Professor hier an der Uni, und es interessiert mich einfach nicht mehr, was ich den Studenten erzähle oder was sie dazu denken.“ Alles, was ihm in den letzten Wochen durch den Kopf gegangen war, sprudelte hervor, egal ob es sein Gegenüber wirklich hören wollte. Ganz egal. „Keiner in meiner Arbeit interessiert sich wirklich für mich. Meine Leistungen, meine Bücher, meine Forschungsergebnisse, klar. Aber ich als Person falle dort keinem auf. Nicht einer von denen hat gemerkt, dass es mir schlecht geht. Mein Leben macht mir einfach keinen Spaß mehr. Es hat keinen Sinn mehr, es ist farblos geworden. Du bist wahrscheinlich zu jung um all das zu verstehen. Vielleicht muss man dafür auch an der Uni gewesen sein, um den Wert von Arbeit zu verstehen. Was gibt es denn da zu lächeln? Machst du mich über dich lustig?“
Micha hob beschwichtigend die Hände. Tatsächlich hatte sich bei Tims letzten Worten ein schwaches Lächeln auf sein Gesicht geschlichen.
„Der Wert von Arbeit“, sagte er dann. „Die Phrasen sind doch immer noch die gleichen. Alles nur Gerede. Ich hab auch mal zu dieser ganzen Welt gehört für kurze Zeit. Das Studieren in Höchstgeschwindigkeit, möglichst viel Lernen in möglichst wenig Semestern. Alles auf Leistung gepolt. Ich fand es furchtbar. Immer wieder kriegt man gesagt, wie wenige Arbeitsplätze es für die paar hundert Studenten gibt, der Druck wird immer weiter erhöht. In der Uni tut doch jeder so, als gäbe es nichts Wichtigeres als Arbeit und Leistung. Ich bin dann nach dem ersten Semester ausgesiebt worden. Mit einem Durchschnitt von 1,3 habe ich zu den schlechtesten gehört und mir war überhaupt nicht klar, wie es weitergehen sollte. Dass man auch anders leben konnte. Also erzähl mir nicht, dass ich den Wert von Arbeit nicht kenne.“ Seine Stimme wurde wieder fester, die zittrige, schwache Note verschwand. „Aber wenn dir dein Job nicht mehr gefällt, dann hör doch einfach auf damit. Du musst nicht arbeiten, genauso wenig wie ich. Ich habe vielleicht kein so bedeutsames Leben gehabt wie ihr Akademiker, wie die Kommilitonen, die es geschafft haben, aber schöner ist es allemal. Ich bin hier, weil ich nicht dahinsiechen will, weil die Schmerzen unerträglich werden würden, lange bevor der Tod eintritt und ich das nicht erleben will, aber du…“
Er zeigte auf Tim, der ihn mit ernstem Blick betrachtete. „Du hast doch die Schmerzen nur im Kopf. Weil du jemanden verloren hast. Die werden irgendwann schwächer. Wenn du willst, setz dich für den Rest deines Lebens irgendwo an einen Strand und denk an sie und die schönen Jahre, von denen du gesprochen hast. Aber deswegen sterben zu wollen ist Unsinn.“
Tim saß einige Minuten schweigend da. Er hatte nicht erwartet, so einen Vortrag zu hören, noch dazu von einem so jungen Menschen. Natürlich konnte sich Micha nicht vorstellen wie es war, jemanden dem man so sehr liebt zu verlieren, doch dass er mit dem was er gesagt hatte, ein Stück weit im Recht war, konnte Tim auch nicht völlig bestreiten. Es hatte ihn überrascht, dass Micha mal an der Uni gewesen war. Er sah nicht im Mindesten aus wie einer von ihnen. Tim fiel auf, dass er sich nie wirklich Gedanken gemacht hatte, was aus den Studenten wurde, die es nicht bis zum Abschluss schafften, die das geforderte Leistungspensum nicht bringen konnten. Auch er hatte sich nie um die anderen gesorgt.
Ein paar Minuten saßen sie beide schweigend da. Tim wusste nicht, was er antworten sollte. Ein paar Mal hob er den Kopf, setzte an um zu sprechen, doch jedes Mal beließ er es beim Schweigen und betrachtete die Silbermünze in seiner Hand. Betrachtete Helenas Profil darauf. Vielleicht war es besser das Thema zu wechseln, er wollte sich nicht weiter rechtfertigen.
„Wie läuft der Termin da drin denn eigentlich ab?“ Obwohl die Gefühle in ihm gerade sehr widersprüchlich waren und ihn Michas Ansprache sehr aufgewühlt hatte, war Tims Ton ganz normal und sachlich. Eine Fähigkeit, die aufgrund unzähliger unpassender, teilweise auch extrem unhöflicher Zwischenfragen bei den Vorlesungen und Seminaren, die er gehalten hatte, fest zu seinem Repertoire gehörte.
Micha wirkte, als wäre er froh über den Themenwechsel.
„Zuerst ging es darum“, begann er zu erklären, „warum ich den Termin ausgemacht habe. Ich sollte ja möglichst pünktlich sein, wahrscheinlich damit genug Zeit bleibt. Ich habe der Frau in dem Büro von meiner Krankheit erzählt und dass ich sehr lange über meine Entscheidung nachgedacht habe.“
Eine Frau? Wahrscheinlich hatte dieser Jungspund einfach nur einen Androiden mit einer echten Frau verwechselt. Es gab keine Arbeitsplätze mehr abseits der Unis, das wusste doch jeder. So erfahren wie er tat, war sein Gegenüber dann wohl doch nicht.
„Wir haben uns darüber unterhalten, dass mein Entschluss fest steht und dann hat sie gesagt, ich bekomme noch etwas Zeit zum überlegen und wenn ich mich endgültig entschieden habe, soll ich einfach durch die schwarze Tür gehen.“
Beide sahen sie zu den beiden Türen am Ende des Raumes. Links die weiße, durch die Micha den Raum betreten hatte, und rechts die schwarze. Das hatte es also damit auf sich, dachte Tim. Eine gute Idee, den Leuten noch ein paar letzte Minuten allein zu geben.
„Dann hat sie mir noch erklärt, wie der Stuhl funktioniert.“
„Der Stuhl?“
Micha hatte ihn aus seinen Gedanken zu den beiden Türen gerissen, er war sich nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. Was für ein Stuhl?
„Das lässt du dir am besten von ihr selbst erklären, ich glaube nicht, dass ich das halbwegs korrekt wiedergeben könnte.“
Tim nickte. Er hatte zwar in den Geschichtsbüchern mal von elektrischen Stühlen gelesen, aber sowas konnte hier nicht eingesetzt werden. Oder doch? Waren die Dinger nicht irgendwann verboten worden? Auf der Homepage des PSH hatte er keine Erklärung gefunden, wie die letzten Minuten hier abliefen. Wieder unterbrach Michas Stimme seine Gedanken.
„Kann ich sie mir mal angucken?“
Er deutete auf Tim, der sah ihn nur irritiert an.
„Die Münze, mit der du die ganze Zeit spielst. Vorhin in der Bahn auch schon. Kann ich sie mir mal angucken?“
Er reichte sie ihm und Micha betrachtete sie in aller Ruhe.
Doch Tim war jetzt neugierig geworden. Sein Gegenüber hatte seinen Forscherdrang geweckt.
„War es schwer, klarzukommen? Nachdem du von der Uni ausgeschlossen wurdest, meine ich.“
Nie zuvor hatte er mit jemandem gesprochen, der beide Seiten erlebt hatte. Warum war er nie auf die Idee gekommen, solche Menschen in seine Studien mit einzubeziehen?
Micha blickte auf.
„Am Anfang schon. Ich fiel in ein ziemliches Loch, aber mit der Zeit hab ich gelernt, meine Tage zu strukturieren und die Zeit zu genießen. Dann war es wirklich schön. Schöner als…“
Die weiße Tür am Ende des Zimmers öffnete sich und eine Stimme rief: „Tim Fischer“.
Tims Knie wurden weich. Nun kam doch noch die Nervosität in ihm durch. Er erhob sich und überlegte, ob er Micha die Hand geben sollte, entschied sich dann aber dagegen. Stattdessen sagte er nur in Michas Richtung:
„Es war angenehm, mich mit dir zu unterhalten. Ich wünsche dir alles Gute. Und…“ Er zuckte unsicher mit den Schultern. „Also… Ich meine… Viel Glück.“
In Michas Augen konnte er sehen, dass er ihn richtig verstanden hatte. Er wollte jetzt nichts über den Tod sagen oder irgendwelche pathetischen Dinge über ein Leben danach. Micha lächelte und das Lächeln kam sogar bei seinen müden, vom Kranksein und dem, was vor ihm lag, erschöpften Augen an. Auch wenn Tim nicht begeistert über die Ansprache war, die Micha ihm gehalten hatte, war er doch der erste Mensch überhaupt gewesen, mit dem er über diese Sachen geredet hatte und allein dafür war er schon dankbar.
„Dir auch viel Glück“, sagte Micha. „Tut mir leid, was mit deiner Frau passiert ist.“
Tim sah ihm noch einen Moment in die Augen. Er hätte gerne noch irgendetwas ermutigendes, nettes gesagt, aber ihm fehlten die richtigen Worte. Dann drehte er sich weg und trat durch die weiße Tür in das hell erleuchtete, kleine Büro.

Dem Ende entgegen (8)

Einen wunderschönen guten Morgen allerseits,

nun nähern wir uns langsam dem Ende der Geschichte „Dem Ende entgegen“.
Ich wünsche viel Spaß mit Teil 8 von 11,

Viele Grüße
Larry deVito

Arno Wilhelm – Dem Ende entgegen – Download Kapitel 1 – 8

Kapitel 8

Seit einer Viertelstunde stand Micha nun schon vor dem Haus seiner Eltern und trat von einem Bein auf das andere. Warum ging er nicht einfach weiter? Oder warf den Brief endlich ein? Es hatte eine halbe Ewigkeit gedauert, bis er mit den paar Zeilen soweit zufrieden gewesen war, dass er sich vom Zoo aus auf den Weg hierher gemacht hatte. Doch jetzt stand er einfach nur da und traute sich nicht vom Fleck. Hatte er erwartet, seine Eltern würden ihn sehen und herauskommen? Vielleicht hatte er das insgeheim, sicher war er sich nicht. Die Chancen dafür standen schlecht. Als Bewohner eines Hauses, das zur einen Seite einen ausgedehnten, wunderschönen Park und zur anderen Seite eine kaum benutzte Seitenstraße Berlins als Aussicht hatte, neigten sie nicht dazu, ihre Tage damit zu verbringen, auf der Straßenseite aus dem Fenster zu sehen. Er konnte auch einfach klingeln. Was sie wohl sagen würden? Vermutlich würden sie entsetzt sein über seine Diagnose und schockiert über seinen Plan, vollkommen von den Neuigkeiten überfordert. Wahrscheinlich würde seine Mutter sich nur unnötig aufregen und sein Vater würde teilnahmslos wie immer in seinem Schaukelstuhl sitzen und seinen Käsekuchen essen. Die beiden waren emotional keine Stütze in schwierigen Zeiten. Er wollte es ihnen einfach nicht selbst erzählen, es widerstrebe ihm. Ein neuer Hustenanfall zwang Micha dazu, sich die Hand auf den schmerzenden Bauch zu pressen, um besser Husten zu können. Als er wieder ruhiger atmen konnte, besah er sich den Brief in seiner Hand. Zum Glück hatte der keinen Schaden genommen, nur der Gehweg schien ein paar Blutstropfen abbekommen zu haben. Es schien schlimmer zu werden. Wahrscheinlich war das die Aufregung und Angst vor dem Abend, die ihn dazu brachte noch mehr zu husten als in den letzten Tagen. Dazu kam, dass von der dauernden Husterei die Bauchmuskeln und seine Lungen vollkommen überstrapaziert waren und beide immer empfindlicher wurden.
Micha gab sich Mühe, ruhig zu atmen und beschloss, der Warterei ein Ende zu machen. Ein letztes Mal würde er den Brief noch lesen, ihn dann in den Briefkasten werfen und seiner Wege gehen. Es hatte keinen Zweck mit ihnen zu reden, also war es das Beste, es auch zu lassen. Er klappte den Brief auf.

Hallo Mama, Hallo Papa,
es tut mir ehrlich leid, dass ihr es auf diese Weise erfahrt, aber ich konnte es euch nicht selber sagen. Ich habe es nicht übers Herz gebracht. Schon seit ein paar Monaten habe ich Schmerzen und fühle mich nicht wohl. Letzte Woche war ich deswegen in einer Klinik und habe erfahren, dass ich Krebs in einem sehr späten Stadium habe, der nicht mehr heilbar ist. Ich habe kein Bedürfnis, die nächsten Monate dahinzusiechen, wenn eh keine Chance auf Besserung besteht, deswegen will ich dem Ganzen ein Ende setzen. Ich hatte ein schönes Leben und ich bin froh, dass ich so liebe und verständnisvolle Eltern wie euch hatte. Bitte verzeiht mir, dass ich euch nichts gesagt habe.
Ich liebe euch beide

Micha

Mit feuchten Augen faltete er den Brief wieder zusammen, warf ihn in den Briefkasten und drehte sich weg. So schnell es seine Lungen zuließen entfernte er sich vom Haus seiner Kindheit, von seinen Eltern, von den einzigen Menschen auf der Welt, die ihm etwas bedeuteten. Ursprünglich hatte er gehofft, der Tag würde ihm noch ein paar angenehme, letzte Erinnerungen bringen, im Moment spürte er davon leider nichts. Er versuchte, nicht zu weinen. Angst und Trauer zogen in seinem Kopf ihre Kreise. Noch konnte er den Termin auch absagen, einfach wieder nach Hause gehen und so tun, als wäre alles gut. Ein paar Tage würde das noch gut gehen, wenn es mit seiner Gesundheit im selben Tempo bergab ginge, wie bisher. Aber was dann? Die Schmerzen waren schon jetzt kaum auszuhalten, jeder Atemzug fühlte sich an, als ob tausende kleine Nadeln seine Lungen attackieren würden. Es war wichtig, dass er sich zusammenriss. Er bog in die Chomskyallee ein, von dort aus war es nicht mehr weit bis zur Praxis. Halb acht sollte er dort sein, pünktlich halb acht, hatte die Stimme am Telefon gesagt.
Nächtliche Dunkelheit hatte sich über Berlin gelegt und Micha fror ein wenig in seiner dünnen Jacke. Je kälter die Luft wurde, umso unangenehmer wurde sie in den Lungen. Endlich erreichte er die Kreuzung zur Turingstraße und konnte einen ersten Blick auf das weiße Haus erhaschen, in dem die sich die Praxis des PSH befand, die am nächsten an seiner Wohnung lag. Der Praxisverbund für Sterbehilfe e.V. hatte laut seiner Homepage, die Micha in den letzten Tagen gründlich durchforstet hatte, 8 Praxen in Berlin und fast 100 in ganz Deutschland. Sie befassten sich laut eigener Aussage damit, denjenigen, die das wünschten, „ein würdevolles Ende zu ermöglichen“.
Das Haus auf das er jetzt zulief kannte er schon von Bildern. Es war ein flacher, einstöckiger Bau, dessen Fenster verspiegelt waren, um keine Blicke nach drinnen zuzulassen. Vor der weißen Eingangstür blieb Micha stehen. Die Aufregung nahm weiter zu. Sein laut pochendes Herz konnte man vermutlich trotz der geschlossenen Tür im ganzen Haus hören. Wieder brach dieser schmerzhafte, nicht enden wollende Husten aus ihm hervor. Dicke, dunkelrote Blutstropfen flogen auf das Weiß der Eingangstür. Micha ließ sich für einen Moment auf die Knie sinken, seine Kraft reichte heute nicht mehr, um den Husten auszuhalten und gleichzeitig noch sein Körpergewicht zu tragen. Als der Husten wieder abebbte, hatten seine Lungen begonnen, bei jedem Ausatmen eine Art Pfeifton von sich zu geben. Er traute sich nicht mehr, tief einzuatmen. Es tat zu sehr weh.
Mühsam erhob er sich wieder, stützte sich an der Tür ab und betrachtete sie. Auf ihr war das Logo des PSH angebracht: Ein Kreuz und daneben eine Schlange, die sich um einen Stock wand. Letzteres hatte er schon bei manchen Krankenhäusern im Logo gesehen. Die beiden Zeichen zusammen sollten die Verbindung von Leben und Tod symbolisieren. Auch das hatte Micha die Homepage des PSH verraten. Nun war der Kopf der Schlange allerdings durch einige Blutspritzer befleckt. Micha suchte seine Taschen nach einem Tempo ab. Nach erfolgloser Suche wischte er das Blut einfach mit dem Ärmel seiner Jacke weg, was überraschend gut funktionierte. Jetzt sah zwar der Ärmel nicht mehr besonders gepflegt aus, aber da wo er jetzt hinging, würde das hoffentlich keine Rolle mehr spielen.
Langsam schob er die Tür auf und trat hindurch, hinein in das weiße Vorzimmer der Praxis. Alles hier war weiß. Die Wände, der Boden, der kleine Brunnen in der Ecke, selbst die Steine im Brunnen waren weiß. An einer Seite stand ein großer Aufsteller mit Flyern des PSH. Die Fenster, die von außen keine Blicke hereinließen und aussahen, wie überdimensionierte Spiegel, waren von der Innenseite durchsichtig. Man konnte von diesem Vorraum aus die Straße überblicken, ohne selbst gesehen zu werden. Eine gute Idee, dachte Micha, für den Fall, dass jemand wieder gehen wollte, ohne gesehen zu werden. Er unterdrückte das Bedürfnis eben das zu tun. Vor Aufregung waren seine Hände schweißnass.
Der Eingangstür gegenüber befand sich eine Tür, auf der ein Schild angebracht war. Darauf stand in großen Lettern „Wartezimmer“ und darunter in klein waren die Worte „Bitte treten Sie ein“ zu lesen. Micha sah auf die Uhr. Es war 19.33 Uhr, er war fast pünktlich. Er ging schnurstracks durch das Zimmer, bedacht, nicht zu husten, um keine roten Tupfer in dem strahlenden Weiß des Raumes zu hinterlassen. Das Wartezimmer war menschenleer und fast identisch mit dem Raum zuvor, nur dass hier links und rechts je drei weiße Stühle standen. Über jeder der Stuhlreihen hing ein Gemälde, eine Ansammlung von weißen und schwarzen Kreisen und Rechtecken.
Am Ende des Zimmers befanden sich zwei Türen. Die Linke war weiß und die Rechte schwarz. Ein paar Sekunden blickte Micha umher, doch er fand an keiner der beiden irgendeine Beschriftung. Gerade wollte er sich auf einem der Stühle niederlassen, da ging die weiße Tür auf und eine Stimme rief „Michael Ferdinand Dorfer“. Irgendetwas war merkwürdig an dieser Stimme, aber was war es?
Er ging durch die Tür und fand sich in einem kleinen Büro wieder. Dort stand eine ältere Dame mit fast vollkommen weißen Haaren. Sie konnte nicht größer als einen Meter sechzig sein. Ihr Alter konnte Micha nicht schätzen, aber die vielen Falten und der leicht gebeugte Rücken ließen ihn vermuten, dass sie schon deutlich mehr Winter gesehen hatte als er. Es war selten, dass man jemanden sah, der wirklich viele Falten hatte. Unwillkürlich musste er an den Mann in der U-Bahn denken, der die ganze Zeit mit der Münze in seiner Hand gespielt hatte. Auch der hatte ungewöhnlich viele Falten gehabt. Zwei Akademiker an einem Tag zu sehen, wenn das mal kein seltsamer Zufall war.
Jetzt wurde ihm auch klar, was er an der Stimme so seltsam gefunden hatte, als er sie gerade gehört hatte. Es war eine menschliche Stimme gewesen, nicht eine der Computerstimmen, wie er sie gewohnt war.
Die Frau lächelte ihn zaghaft an und streckte ihm die Hand hin.
„Herr Dorfer?“
Micha nickte.
„Herzlich Willkommen beim PSH, meine Name ist Ingeborg Nolte.“ Micha schüttelte ihr die Hand und sie wies ihn mit einer Geste an, auf dem Stuhl Platz zu nehmen, der vor ihrem breiten, weißen Schreibtisch stand.
„Wenn Ihnen das Recht ist, würde ich zuerst einmal gerne etwas über ihre Beweggründe erfahren, diesen Schritt zu gehen. Sie können ganz frei erzählen. Danach werde ich Ihnen dann ein bisschen was über die Geschichte des PSH erzählen, Ihnen erklären was wir machen und wie der heutige Abend ablaufen wird, gesetzt den Fall, dass sie bei der Entscheidung bleiben.“
Frau Nolte hatte nun hinter ihrem Schreibtisch Platz genommen. Vor ihr lag ein Kuli und ein kleiner Notizblock, auf dem Michas Name stand. Nach wie vor trug ihr Gesicht dieses milde, zurückhaltende Lächeln, das Micha als eine Mischung aus Interesse und Fürsorge verstand.
„Erzählen Sie bitte ein bisschen was von sich. Warum haben Sie sich entschieden, diesen Weg zu wählen?“
Micha lehnte sich zurück, atmete so tief durch wie es ihm noch möglich war und fing an zu erzählen.

Dem Ende entgegen (6)

Einen wunderschönen guten Abend,

es hat ein wenig länger gedauert, als ich gehofft habe, aber hier kommt nun der sechste Teil der Erzählung „Dem Ende entgegen“. Damit ist mehr als die Hälfte der elf Teile fertig. In ein paar Tagen berichte ich hier auch darüber, warum das so lange gedauert hat mit dem sechsten Teil, soeben ist nämlich mein neuer Gedichtband erschienen, aber wie gesagt, dazu gibt es in ein paar Tagen noch News. Ansonsten habe ich das Layout des Blogs ein bisschen verfeinert. In der Spalte rechts gibt es jetzt auch ein neues Feld, da kann man immer sehen, welches Buch ich gerade so lese.

Ich wünsche euch viel Spaß mit dem neuen Teil,

Mit den besten Grüßen,
Larry deVito

Arno Wilhelm – Dem Ende entgegen – Download Kapitel 1 – 6

Kapitel 6

Glücklicherweise war heute im Zoo nicht viel los. Die Warteschlange vor dem Tigerhaus ging nicht wie üblich bis hinter zu den Elefanten und Giraffen. Nur ein junges Pärchen mit Kind war noch vor ihm dran. Die würden bestimmt nicht allzu lange brauchen. Auch er war in jungen Jahren ein paar Mal mit seinen Eltern hier gewesen, doch damals war er noch zu klein, zu ängstlich und hatte überhaupt keinen Gefallen an den wilden Tieren gefunden. Der Junge vor ihm war vielleicht sieben oder acht Jahre alt, leckte an einem Eis und besah sich mit großen Augen die Welt um ihn herum. Seine Eltern schmiegten sich aneinander und unterhielten sich leise. Micha befiel ein Anflug von Wehmut um all die Dinge, die er noch hätte erleben können, wenn seine Diagnose anders ausgefallen wäre oder die Chancen auf Heilung besser stünden. Er würde nie eine eigene Familie haben, nie lernen was es bedeutete, Vater zu sein. Natürlich war auch nicht gesagt, dass er jemals das Gefühl, eine eigene Familie zu haben, kennengelernt hätte, selbst wenn ihm noch 50 Jahre oder mehr geblieben wären. In den letzten Jahren hatte er sich kaum um solche Dinge geschert. Er war sein eigener Lebensmittelpunkt gewesen und damit auch gut gefahren. Nur seit dem Tag im Krankenhaus, seit er wusste, wie bald es vorbei sein würde, hatte er immer und immer wieder das Gefühl, er hätte irgendetwas größeres, bedeutungsvolleres mit seinen Jahren tun müssen. Etwas, das nicht nur seinem eigenen, kurzfristigen Wohl diente. In die Forschung gehen und beruflich erfolgreich werden zum Beispiel oder eben privates Glück finden. Doch weder das Eine noch das Andere hatte in seiner Macht gestanden, was also hätte er schon groß anders machen können?
Vor dem Pärchen ging die Tür auf und zwei schlaksige Jungs, die Micha auf 16 oder 17 schätzte, kamen aus dem Tigerhaus geschlurft. Beide wirkten aufgedreht und begeistert.
„War das geil“, sagte einer von beiden gerade, als sie an Micha vorbeikamen. „Müssen wir morgen gleich wieder machen.“
Sein Kumpel nickte nur grinsend und strich sich die fettigen, langen Haare aus dem Gesicht. Micha dachte an die ersten Male, die er allein oder mit Freunden hier gewesen war. Die zitternden Hände, die Aufregung. Das war toll gewesen. Mittlerweile war es halb Nostalgie, halb Bewunderung für die Anmut der Tiere, die ihn regelmäßig in den Zoo brachte. Angst oder Aufregung verspürte er dabei kaum noch. Vor ihm hob der junge Familienvater seinen Sohn hoch und folgte seiner Frau in die Schleuse. Die Türen schlossen sich und Micha bildete nun ganz allein die Warteschlange.
Es dauerte nur wenige Minuten, bis die drei wieder da waren, ganz wie Micha es vermutet hatte. Der kleine Junge schrie und weinte während seine Eltern sich alle Mühe gaben, ihn zu beruhigen. Wahrscheinlich hatten sie gedacht, sie würden ihm eine Freude bereiten, in dem sie ihm diese anmutigen Tiere zeigten. Das Gesicht des Kindes zeigte nur Angst, wenn überhaupt, würde erst in ein paar Stunden ein wenig Begeisterung einsetzen. Bestimmt kauften sie ihm jetzt auf den Schreck ein Eis, oder eine andere Süßigkeit. Die meisten Kinder waren so leicht zu abzulenken. Schade, dass man das auf dem Weg ins Erwachsenenalter irgendwann verlor, dachte Micha, mit einem Gedanken daran, wie er die letzten Tage verbracht hatte, als er nun selbst die paar Schritte durch die Türen ging und den roten Knopf drückte, damit die Schleuse sich schloss. Die Türen zum Inneren des Tigerhauses öffneten sich und er trat ein.
Er befand sich in einer großen Hütte, deren Inneres rundum mit Holz verkleidet war. Nur von außen war das Metall zu sehen, das die Außenwände aus Sicherheitsgründen umgab. Der Boden war aus Stein und übersät mit Dreck, der aussah wie eine Mischung aus Essensüberresten und Exkrementen. Eine Ecke war mit Stroh ausgepolstert, ansonsten wirkte der Raum vollkommen karg. Die riesige Klappe durch die die Tiere im Sommer in ihr großes Gehege konnten, war heute verschlossen. Hier war die Luft viel stickiger als draußen. Der Geruch der Tiere war markant und mit nichts vergleichbar, das Micha je an einem anderen Ort gerochen hatte. Insgesamt gab es hier im Zoo vier Tiger. Am Hals und an allen vier Pfoten trug jeder von ihnen dünne, silberne Metallbänder, die mit hochentwickelten Mikrochips und jeder Menge anderer Technik bestückt waren, die Micha nicht verstand.
Das einzige Tigerweibchen lag heute schlafend in der Ecke mit dem Stroh, sie schien sich an dem Weinen des kleinen Jungen vor wenigen Minuten nicht gestört zu haben. Die drei Männchen liefen unruhig vor ihr auf und ab, bisher hatten sie Micha noch nicht wahrgenommen. Es war jedes Mal aufs Neue unglaublich, wie grazil und katzenartig sie ihre schweren Körper bewegten. Langsam, ruhig und bedrohlich. Unter ihrem orangen Fell mit den schwarzen Streifen konnte er sehen, wie die Muskeln sich bewegten. Er spürte wie sein Herz schneller schlug. Vorsichtig machte Micha ein paar Schritte in ihre Richtung. Eines der Tiere hatte ihn bemerkt und kam langsam auf ihn zu, ohne den Blick auch nur für eine Sekunde abzuwenden. Zwischen ihnen war kein Gitter, kein massives Glas, nicht mal eine Bretterwand, die den Tiger von Micha fernhielt. Kein Wunder, dass Kinder die Faszination dieser Situation noch nicht verstehen konnten. Instinktiv spannte sich jeder Muskel im Körper an und es gehörte viel Überwindung dazu, die instinktive Fluchtreaktion zu unterdrücken.
Von den anderen Tigern hatte sich keiner für ihn interessiert. Vermutlich war derjenige, der auf ihn zukam, so eine Art Chef unter ihnen, aber obwohl er schon so oft hier gewesen war, wusste Micha nicht genug von Tigern, als dass er sich damit sicher gewesen wäre. Nur wenige Zentimeter vor ihm blieb der Tiger stehen. Micha streckte seine Hand aus, doch der Tiger machte sich nicht die Mühe seinen massiven Kiefer danach auszustrecken sondern roch nur an dem Neuankömmling. Er wusste, was Micha wusste.
Auch wenn es an sichtbaren Barrieren mangelte, konnte er ihn doch nicht erreichen, zumindest nicht mit dem Kiefer und auch nicht mit den Tatzen. Dafür sorgten die kleinen Metallbänder. Von ihnen ging irgendeine Art von Feld aus, die sie auf Distanz hielt. Es fühlte sich an, als würde man eine sehr warme, hauchdünne Oberfläche aus Glas berühren, unter der so viel Strom entlang floss, dass es sich anfühlte, als würde sie ständig leicht pulsieren. Man konnte sie nicht sehen und bekam auch keinen Stromschlag, doch es war unmöglich hindurch zu fassen.
Langsam beruhigte sich sein Puls wieder und er begann, dem Tiger über das Fell zu streichen. So etwas ließen sich nur Tiger gefallen, die schon sehr lange hier im Zoo waren. Die jüngeren versuchten meistens in die Hand zu beißen oder liefen weg. Manchmal wurden Tiere frisch gefangen und kamen dann hierher, die sprangen die Besucher auch schon mal an, mussten aber auch irgendwann einsehen, dass sie nicht gewinnen konnten, ohne ihre Tatzen und ihr Gebiss zu benutzen. Die Besucher kamen immer mit dem Schrecken und dem ein oder anderen blauen Fleck davon. Wie wohl die Roboter aussahen, die dafür zuständig waren, wilde Tiere für die Zoos einzufangen, fragte sich Micha. Es gab so viel, über das er noch nie nachgedacht hatte und nun würden alle Fragen unbeantwortet bleiben. Er versuchte, sich den Geruch dieses Ortes tief einzuprägen, während er immer noch das weiche Fell des Tigers berührte.
In diesem Augenblick stieg ohne Vorwarnung seines Körpers ein starker Hustenreiz in ihm auf, so dass er es nicht mehr rechtzeitig schaffte, sich die Hand vor den Mund zu halten. Er hustete lautstark und sprenkelte das Fell des Tigers mit winzigen Blutstropfen. Alle Tiere im Raum hatten mitten in ihren Bewegungen innegehalten und blickten zu ihm, selbst das Tigerweibchen in der Ecke war aufgewacht und hatte den Kopf gehoben, während Micha sich vor Schmerzen beim Husten krümmte und wand, den Arm auf seinen Oberkörper gepresst. Wie in einem Western, wenn man den Saloon betritt, dachte Micha. Die vier Tiere starrten ihn bewegungslos an, es fehlte nur der Pianist, der aufhörte zu spielen und vielleicht ein Ballen Heu, der irgendwo durchs Bild flog. Das kurze, gepresste Lachen, machte den Husten nur noch schmerzhafter. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Mit kleinen Schritten lief er zur Schleuse, die sich um ihn herum schloss und dann den Weg nach draußen freigab. Krampfhaft versuchte er möglichst ruhig zu atmen und brachte den Husten an der frischen Luft wieder unter Kontrolle.
Eine Gruppe Mädchen, vielleicht sieben oder acht, die nicht älter als 14 sein konnten, drängelte und schob sich an ihm vorbei, während er langsam den Eingangsbereich des Tigerhauses verließ. Niemand achtete auf ihn. Wahrscheinlich würden sie sich ein bisschen erschrecken, falls sie die Blutstropfen auf dem Fell des Tigers sahen. Micha hielt sich immer noch Bauch und Brustkorb, aber langsam beruhigte er sich wieder.
Nun gut, dachte er, die Erinnerung an seinen letzten Besuch hier hatte er sich schöner erhofft, aber er würde nicht noch einmal da hineingehen. Die schlechte Luft tat seinen kaputten Lungen alles andere als gut. Mühsam versuchte er sich zusammenzureißen und ging in Richtung des kleinen Cafés, in dem er nach den meisten seiner Besuche hier noch ein Bier getrunken hatte. Er überquerte den großen geteerten Platz, der die verschiedenen Teile des Zoos miteinander verband. Hier standen grell bunte Automaten, an denen man sich und seine Kinder mit Süßigkeiten versorgen konnte. Auf der anderen Seite des Platzes war das Café. Ein runder Raum, innen und außen quietschgelb gestrichen, bestückt mit kleinen Stühlen und Tischen. Außer ihm war heute niemand hier. Micha war froh, endlich eine Sitzgelegenheit zu haben. An einem kleinen, alten Servierautomaten drückte er den Knopf für ein großes Wasser, legte seinen Daumen zum bezahlen auf den Sensor und nach wenigen Sekunden öffnete sich eine Klappe, so dass er die Wasserflasche heraus nehmen konnte. Dazu angelte er sich noch eins der Briefpapiere, das mit dem Briefkopf des Zoos bedruckt war. Solches Briefpapier und Ansichtskarten mit allen möglichen Tieren darauf gab es hier zuhauf. Es war umsonst, wahrscheinlich weil es gute Werbung für den Zoo war.
Seufzend ließ er sich an einem der Tische nieder und trank die erste Hälfte der Wasserflasche in einem Zug aus. Den Entschluss, seinen Eltern einen Brief zu schreiben, hatte er bereits zuhause gefasst. Er musste es ihnen noch irgendwie mitteilen, sie durften es nicht erst erfahren, wenn schon alles vorbei war. Die Idee, den Brief gleich hier zu schreiben, war ihm dann auf dem Weg hierher gekommen. Nach einem letzten, beruhigenden Besuch bei den Tigern, würde es leichter von der Hand gehen, hatte er gedacht. So viel zu übersteigerten Erwartungen. Seufzend nahm er einen Stift vom Tisch und begann zu schreiben.

Hallo ihr Lieben,
entschuldigt, dass ich es euch nicht persönlich gesagt habe, aber was ich euch mitteilen muss

Micha hielt inne, zögerte, dann zerknüllte er den Zettel, warf ihn in den Mülleimer und holte sich ein neues Briefpapier, um von vorne zu beginnen. Schon die Anrede passte nicht. Wie brachte man etwas so gewaltiges auf Papier? Wie konnte er das mit der Diagnose erzählen? Erklären, warum er ihnen bisher nichts gesagt hatte? Was waren die richtigen Worte dafür? Sollte er ihnen sagen, was genau er vorhatte? Er spürte, wie Tränen seine Wangen hinunterliefen. Einige Minuten saß er einfach nur da und dachte nach, tief versunken in seinen Gedanken.
Dann begann er erneut zu schreiben.