Hinter verschlossenen Türen (6)

Einen wunderschönen guten Abend,

es wird mal wieder Zeit für einen neuen Teil von „Hinter verschlossenen Türen“. So langsam erkämpft sich die Story mehr Raum als ich eigentlich für sie vorgesehen hatte, aber es macht einfach Spaß sie zu schreiben. Über Rückmeldungen dazu freue ich mich natürlich wie immer sehr. Bald kommen auch wieder neue Gedichte, neue Auftrittstermine und Infos über die Veröffentlichungen für 2013 hier auf dem Blog. Man darf gespannt sein.
Ich wünsche ein schönes Wochenende,

Fühlt euch gegrüßt,
Arno / Larry

Hinter verschlossenen Türen – PDF

6.  Kapitel

Sie stürmten beinahe gleichzeitig um die Ecke und hin zur Tür. Lisa-Marie lag bewusstlos am Boden. Peter wollte zu ihr hin, doch eine Hand packte ihn an der Schulter und hielt ihn an Ort und Stelle.
»Was?«, entfuhr es ihm, während er sich mit verständnislosem Blick umdrehte.
Lewandowski sah ihn mit ernster Miene an und schüttelte leicht den Kopf ohne etwas zu sagen. Peter drehte sich zurück. Sofort wurde ihm klar, warum Lewandowski ihn zurückgehalten hatte. Lisa-Marie lag noch immer auf der anderen Seite der Tür. Der Versuch zu ihr zu gelangen hätte ihn ebenfalls zu Boden gestreckt, nur auf dieser Seite. Er spürte, wie es in ihm loderte. Wie sehr er Lisa-Marie beschützen wollte. Er musste sich zusammenreißen.
»Wo ist der Cop hin?«, hörte er Lewandowskis raue Stimme fragen. Als Peter keine Anstalten machte, erneut loszustürmen, lockerte sich der Griff an seiner Schulter. Er sah sich nach allen Seiten um.
»Er bringt erstmal den Gefangenen in die Zelle, vermute ich. Wahrscheinlich kommt er danach zurück oder… «
»Oder er ruft gerade Verstärkung«, beendete Lewandowski den Satz für ihn.
»Sag Skinny Bescheid – Plan B«, sagte Peter mit Blick zu Lewandowski. Der ließ ihn los und drehte sich weg. Im Gehen zog er sein Handy aus der Hosentasche.
Lewandowski musste sich aus dem Schussfeld begeben. Unter anderen Umständen hätte Peter ihn gerne an seiner Seite gehabt, samt all seiner Gadgets und elektronischen Spielereien. Aber wenn der Android zurückkehrte und sie Lisa-Marie befreiten, konnte es sein, dass der es dabei schaffte, Lewandowski zu identifizieren. Das konnte ihre Pläne für den dritten Oktober ruinieren.
Während Lewandowski sich entfernte, blieb Peter an der Tür stehen. Er vergewisserte sich, dass die beiden von Fluffy betäubten Androiden noch immer stillstanden und versuchte seinen Blutdruck niedrig zu halten. Er merkte, wie sehr ihm die Routine der Jobs nach der Zeit im Knast fehlte.

»Fluffy?«
Er sagte es leise, unsicher, ob sich dieser in der Nähe befand. Sofort lugte der Kopf des Androiden um die Ecke und sah ihn an. Er hatte neben Lisa-Marie gewartet.
»Wenn ich dir ein Signal gebe, trägst du sie hinaus. Bring sie zu mir dort rüber. Es sollte funktionieren. Sie darf auf keinen Fall verletzt werden, in Ordnung?«
Fluffy nickte, zog seine Pistole aus dem Holster am Gürtel und hob die bewusstlose Frau auf seine Arme. Der andere Cop war noch nicht zurückgekommen, es konnte sich nur um Minuten handeln.
Peter zog sein Handy aus dem Gürtel und rief Lewandowski an. Mittlerweile musste er in seinem Pick-up angekommen sein. Im besten Fall war er bereits dabei sich einzuloggen.
Peter hatte sich heute morgen von Fluffy die Zugangscodes für das Netz des Gefängnisses geholt und sie Lewandowski geschickt, für Notfälle. Hoffentlich schaffte der es, damit die Durchgangssperre wenigstens für ein paar Sekunden zu deaktivieren.
»Ich bin dran«, meldete sich Lewandowski.
»Hast du Skinny erreicht?«
»Der ist auf dem Weg. Sein Auto steht drei Blocks entfernt, das müsste zu schaffen sein.«
In diesem Augenblick erklangen die Sirenen. Nicht in der Ferne, sondern viel zu nah.
»Hast du… «, setzte Peter an, Lewandowski unterbrach ihn sofort.
»Ja, hab ich gehört. Ich muss mich beeilen, wenn sie erstmal den Rechner hier als nicht-staatlich identifiziert haben, werden sie mich augenblicklich aus dem Netz werfen. Es kann nicht mehr lange dauern.«
Seine Stimme klang gepresst und angespannt. Im Hintergrund erklang das ununterbrochene Klackern von Tasten.
Peter versuchte, die Richtung zu identifizieren, aus der die Sirenen kamen. Wenn er sich nicht irrte, dann von links aus Richtung Innenstadt. Er zog sich mit einem letzten Blick auf Fluffy, der die noch immer bewusstlose Lisa-Marie auf seinen Armen hielt, hinter die andere Hausecke zurück.
»Ich hab‘s«, rief Lewandowski. Die Euphorie war deutlich zu hören. »Jetzt oder nie!«
»Verwisch deine Spuren«, raunte Peter. In diesem Augenblick bogen die Polizeiwagen um die Ecke. Der Erste kam kurz vor der Tür zum Gefängnis zum Stehen, der Zweite mit quietschenden Reifen dahinter. Sicher waren noch mehr im Anmarsch.
»Fluffy, jetzt!«, rief Peter so laut er konnte und sah, dass Fluffy loslief und es durch die Tür schaffte. Ein Schuss fiel und der Android stolperte. Peter hielt das silberne Kreuz an seinem Hals umklammert und versuchte ruhig zu bleiben und zu begreifen, was passiert war. Der Schuss war nicht aus Richtung der Polizeiwagen gekommen. Es musste der Android gewesen sein, der Polizist, der vorhin einen Gefangenen hier eingeliefert hatte.
Peter sah vor seinem geistigen Auge, wie Fluffy hinfiel, wie Lisa-Marie von Kugeln übersät auf dem Boden aufschlug. Sah, wie er selbst um sein Leben rannte. Doch der Android lief weiter, als wäre nichts passiert, obwohl ihn die Kugel getroffen haben musste. Dabei schützte er noch mit seinem Körper den von Lisa-Marie. Kaum zu glauben. Wo blieb Skinny nur?
»Wir brauchen mehr Zeit!«, schrie Peter ins Handy.
»Okay, okay. Wenn ich den Code hier richtig einschätze, kann ich dir ein bisschen Zeit verschaffen.«
Mehr Klackern folgte, schneller als zuvor. Die Cops stiegen aus ihren Autos, nicht sicher, wie sie reagieren sollten. Es gab kein klares Programm für diese Situation. Aus ihrer Sicht feuerte ein Polizist im Inneren des Gefängnisses auf einen anderen außerhalb, der eine leblose Frau trug. Sie alle hatten ihre Waffen gezogen, doch bisher schoss keiner. Auch Fluffy war clever genug, keine Schüsse abzugeben.
»Okay, jetzt musst du nur den Gefangenen mitteilen, dass sie frei sind.«
Lewandowski sagte das ganz lapidar, als sei es nichts Weltbewegendes.
»Ich mach mich vom Acker, sonst hab ich hier auch gleich Besuch. Viel Erfolg!«
Peter überlegte einen Moment was er tun sollte, dann holte er tief Luft und rief: »Ihr seid frei! Lauft, so schnell ihr könnt!«
Blitzschnell zog er sich wieder ganz aus dem Sichtfeld der Cops zurück.
Für einen Moment schien nichts zu passieren, dann hörte er, wie hinter der Mauer jemand etwas von Freiheit schrie. Wie ein Lauffeuer ging der Ruf von Zelle zu Zelle. Peter wagte einen Blick um die Hausecke, im selben Moment peitschte ihm ein Schuss entgegen, der ihn nur knapp verfehlte. Er wusste nicht, ob er ihm oder Fluffy gegolten hatte, der jetzt in seine Richtung unterwegs war.
Peter hörte Lewandowski eine Querstraße entfernt wegfahren. Nein, er konnte das nicht sein, das Motorengeräusch kam auf ihn zu. Das war Skinny. Er hatte es endlich geschafft, seinen fahrbaren Untersatz herzubringen. Wieder ein Schuss, dann mehrere Schüsse in ihre Richtung. Immer wieder feuerte Fluffy jetzt nach hinten und schützte Lisa-Marie mit seiner Schulter. Gleich würden die Gefangenen beginnen, aus der Tür zu strömen.
Skinny riss das Steuer herum und kam mit einer Drehung schleudernd wenige Meter nach der Häuserecke zum Stehen. Erneut peitschten Schüsse. Peter betätigte den Auslöser in seiner Hosentasche. Die Explosion zerriss das schwarze Tape, das sie an der Tür angebracht hatten. Ein letzter Hauch von Ablenkung.
»Da rein!«, rief er Fluffy zu, der sofort begriff, was ablief und Lisa-Marie auf den Rücksitz bugsierte. Sie war gerade dabei, das Bewusstsein wiederzuerlangen und wehrte sich instinktiv gegen die mechanische Behandlung. Zum Glück schaffte er es, auch wenn sie vermutlich blaue Flecken davon tragen würde. Peter schmiss sich auf den Beifahrersitz, spürte ein unangenehmes Knirschen, als er auf dem Sitz aufkam, und rief laut: »Fahr los!«
Nichts passierte. Er drehte sich zu Skinny um und sein Magen vollführte einen Salto. Er hatte angenommen, Skinnys sicheres Auto, mit dem er so gern prahlte, wäre komplett kugelsicher, offensichtlich galt das jedoch nur für die Front- und Heckscheibe. Eine Kugel hatte bei seinem Wendemanöver das Seitenfenster durchschlagen und ihm den halben Hals aufgerissen. Die Menge an Blut, die aus der klaffenden Wunde strömte, ließ Peter würgen. Skinny rührte sich nicht. Jetzt blieb keine Zeit für nähere Untersuchungen, nicht mal für ein stummes Gebet. Die Polizisten kamen näher, Kugeln flogen ihnen um die Ohren. Die Glasscherben auf denen er saß machten das Ganze nicht angenehmer. So schnell er konnte, zog er ein Bein über die Mittelkonsole. Er schob Skinnys ein wenig zur Seite und trat mit dem linken Fuß das Gaspedal durch. Er überwand die Abscheu, die ihn bei der Berührung von Skinnys leblosen Händen überkam, griff ins Lenkrad und schaffte es knapp, nicht direkt in die nächste Hauswand zu donnern. Hinter ihm ertönte ein entsetzter Aufschrei, dann eine brüchige Stimme, die fragte: »Was ist passiert?«
Lisa-Marie war endgültig aufgewacht und hatte Skinnys Wunde bemerkt.
»Lass uns erstmal aus der Schusslinie kommen«, sagte Peter nervös, während er in die Seitenstraße einbog, aus der eben noch Skinny quietschlebendig erschienen war, um sie hier rauszuholen. So eine Scheiße.
Der letzte Blick zurück, bevor sie außer Sichtweite der Tür gewesen waren, hatte ihm gezeigt, dass es zwar immer mehr Autos der Bullen wurden, aber nur eines Anstalten machte, ihnen zu folgen. Mittlerweile drangen die ersten Gefangenen durch das Tor in die Freiheit und viele der Polizisten wandten sich diesem deutlich größeren Problem zu. Peter jagte die rote Schrottkiste so schnell sie konnte durch Berlins Innenstadt. Peter sah in den Rückspiegel, sie gewannen Abstand gegenüber dem Auto der Cops. Nicht weit vor ihm tauchte rechter Hand das Haus auf, in dem er sich die letzten Tage versteckt hatte. Unbewusst hatte er die ursprünglich geplante Route genommen, doch er fuhr weiter, um nicht auf das sichere Haus aufmerksam zu machen. Warum schalteten die Cops ihr Blaulicht nicht an? Um nicht zu viele Blicke auf sich zu ziehen?
Die Verfolgungsjagd ging nur wenige Minuten, in denen der Abstand zwischen ihnen immer größer wurde. Jetzt gaben die Polizisten auf und ließen sich zurückfallen. War ihr Auto defekt oder wirklich so langsam? In dem Augenblick hörte er ein leises Röcheln, dann ein Husten direkt neben sich. Vielleicht hatte Skinny doch noch eine Chance.
Peter atmete auf und wandte sich an seine Ex-Freundin.
»Weißt du die Nummer vom Doc noch?«
»Ja, wieso?«
Er zog sein Handy aus der Tasche und warf es ihr nach hinten.
»Sag ihm, dass wir ihm in zehn Minuten einen Besuch abstatten und dass er die Garage öffnen soll. Ich will keine unnötige Aufmerksamkeit.«
»Als ob wir da jetzt nicht schon genug von hätten«, seufzte Lisa-Marie leise.

Hinter verschlossenen Türen (4)

Einen wunderschönen guten Tag,

hier kommt der vierte Teil meiner neuen Erzählung, diesmal allerdings vorerst nur im PDF-Format. Wenn weitere Formate (speziell Ebooks) gewünscht sind, schreibt mir eine kurze Mail oder einen Kommentar, das lässt sich machen.
Ich wünsche euch viel Vergnügen damit,

Mit den allerbesten Grüßen
Arno / Larry

Hinter verschlossenen Türen – PDF

4.  Kapitel

Peter betrat die Küche und blieb einen Moment stehen. Sein Blick schweifte durch den Raum, während er in tiefen Zügen ein- und ausatmete und die Stille genoss. Nicht dass es ihm im Gefängnis daran gemangelt hätte, doch diese hier war eine andere. Egal wie viele Androiden gerade das ganze Land nach ihm absuchen mochten, er war in Freiheit und konnte endlich wieder selbst über seine Zeit und seinen Umgang entscheiden. Wen er traf und mit wem er sprach, zumindest weitgehend. Die letzten Stunden waren viele Leute hier im Haus gewesen. Zuerst hatte er den Doc herbestellt und sein Bein schienen lassen. Der Doc hatte darauf bestanden, dass der Bruch dringend eingegipst werden musste, aber für sowas hatte Peter keinen Nerv. Er würde das Bein schonen so lange es ging, aber seine ersten Wochen in Freiheit würde er sicher nicht mit Gips am Bein im Krankenbett verbringen. Als der Doc gegangen war, hatte er Skinny losgeschickt um ihm Krücken zu besorgen und währenddessen hatte wohl die Nachricht seines Ausbruchs in seinem alten Wirkungskreis die Runde gemacht. Skinny war schon immer eine Plaudertasche gewesen, aber wenigstens wusste er, mit wem er plaudern konnte und mit wem nicht. Einige von Peters früheren Weggefährten hatten ihm die Aufwartung gemacht, natürlich alle ohne Informationen für ihn, über das was gerade so ablief, sehr diskret und irgendwie auch sehr distanziert. Sie hatten es nur nicht glauben können, dass der Ausbruch tatsächlich geglückt war, die erste Flucht aus einem Gefängnis dieser Größenordnung seit Jahrzehnten. Bei dem Gedanken an all das geschäftige Treiben ging es Peter durch den Kopf, wie absurd es war, dass der Großteil der Menschen tatsächlich draußen in dem Glauben herumlief, dass auf dieser Welt außerhalb der Universitäten niemand mehr arbeitete. Absurd, dass die Welt jenseits der Legalität so vollkommen aus allen Medien herausgehalten wurde. Keine Berichte, keine öffentlichen Daten. Die perfekte Illusion. Jetzt wurde es draußen langsam dunkel und der Besucherstrom im Haus war endlich abgeebbt. Zeit, Alessio und Adamo zu treffen und endlich zu hören, was für ein Coup das war, wegen dem sie ihn rausgeholt hatten. Er machte sich nicht die Illusion, zu glauben, dass sie ihn aus Nächstenliebe befreit hatten, oder weil sie seine Arbeit schätzten. Sie kannten sowas wie Treue nur soweit sie ihren Zielen diente. Die beiden würden sogar einander ohne mit der Wimper zu zucken die Köpfe abhacken, wenn es ausreichend von Nutzen wäre, dessen war er sich sicher. In ein paar Minuten würde Skinny runter kommen und ihn zu den beiden fahren. Er wusste jetzt schon, dass es ihm viel abverlangen würde, nicht aus der Haut zu fahren. Ihnen nicht all das an den Kopf zu werfen, dass ihm in der Zeit im Knast durch den Kopf gegangen war. Es war nicht seine Schuld gewesen, dass er dort eingesperrt gewesen war, sondern ihre. Und dafür, für diese endlosen Tage und Wochen die ihm gestohlen worden waren, gab es kein Verzeihen.
Sein Blick fiel auf den Brief, der auf der Ablage über dem halboffenen Geschirrspüler lag. War der an ihn gerichtet? Peter überflog ihn. Ein gewisser Micha offenbarte seinen Eltern seine Krebserkrankung und seinen Plan zu sterben. Was hatte es mit diesem Brief auf sich? Warum lag er hier einfach so herum?
»Sind spurlos verschwunden die beiden.«
Peter erschrak, als eine Stimme plötzlich dicht hinter ihm sprach, und drehte sich um.
»Was meinst du?«
»Die Eltern von diesem Micha. Denen hat das Haus hier gehört. Sie müssen es, kurz nachdem der Brief kam, Hals über Kopf verlassen haben und sind nicht zurückgekommen. Einer von unseren Leuten, der hier normalerweise für den Park zuständig ist, hat was mitbekommen und wir nutzen das Haus jetzt für unsere Zwecke, ohne dass die Behörden was mitbekommen.«
»Können die beiden nicht jeden Augenblick zurückkommen?«
»Soweit ich von Alessio erfahren habe, steht das Haus jetzt schon eine Weile leer und von den Besitzern fehlt jede Spur. Er denkt nicht, dass sie zurückkommen. Schätze mal, sie haben es ihrem Sohn gleichgetan.«
Peter verzog das Gesicht.
»Kein schöner Gedanke, in dem Haus von Toten unterzukommen.«
Skinny machte eine wegwerfende Handbewegung und drehte sich zur Tür.
»Hatte ganz vergessen, dass du da ein bisschen zimperlich bist. Sind ja nicht hier gestorben, wenn sie überhaupt krepiert sind. Jetzt komm, deine Krücken stehen im Flur«, er grinste schief. »Unsere Herren und Meister erwarten dich.«

Die Luft war vom Rauch der Zigarren so diesig, dass man sie kaum noch atmen konnte. Peter schwenkte sein Whiskey-Glas langsam in seiner Hand und betrachtete den Mann, der sich gerade auf dem Stuhl ihm gegenüber niedergelassen hatte. Die Narbe am Kinn war neu, die Koteletten ein wenig länger als bei ihrem letzten Treffen. Hatte er schon immer so tiefe Geheimratsecken gehabt? Lewandowskis kantigem Gesicht sah man seine Intelligenz nicht an, er wirkte auf den ersten Blick wie einer der Halbaffen, mit denen sich Alessio und Adamo zu ihrem Schutz umgaben. Lewandowski dagegen war schon immer einer der cleversten Menschen gewesen, die Peter kannte. Sie hatten eine Weile zusammen studiert, bis Peter hingeschmissen hatte um sich den Dingen zu widmen, die ihm wirklich lagen. Lewandowski war der einzige den er kannte, der es schaffte, auf beiden Seiten zu spielen. Angesehener Dozent und Autor von unzähligen Artikeln und diversen wissenschaftlichen Büchern, und gleichzeitig einer der hellsten Köpfe was die Planung und Durchführung von Verbrechen im ganzen Land anging. Peter mochte den besseren Ruf haben und Lewandowski hatte nie Ambitionen gezeigt, ihn vom Thron zu stoßen, aber sie beide wussten, wer der Klügere von ihnen war.
»Ich passe.«
»All-In.«
Die Männer am Tisch hinter ihnen pokerten. Zu laut für Peters Geschmack. Die restlichen Männer und Frauen an den Tischen des kleinen Hinterzimmers warfen immer wieder genervte Blicke zur Pokerrunde.
»Du siehst älter aus«, sagte Lewandowski, der Peter musterte. »Ich hätte erwartet, dass das Gefängnis für dich ganz erholsam sein dürfte.«
»Wo kommt denn die Narbe an deinem Kinn her?«, entgegnete Peter, ohne auf das Gesagte einzugehen. »Hat dich deine Frau wieder verprügelt?«
Ein flüchtiges Grinsen huschte über Lewandowskis Gesicht. Er hatte Peter vermisst. Zeit, zum Thema zu kommen.
»Wie war das Treffen mit Alessio? Alles im grünen Bereich zwischen euch?«
Peters Miene wurde einen Tick ernster, aber er hatte seine Gesichtszüge gut im Griff.
»War schon okay. Er hat mir erzählt was sie planen und wofür sie mich brauchen. Findest du es nicht ein bisschen krass in deinem eigenen Institut zu stehlen? Gab es da nicht mal einen Satz, dass man nicht da aufs Klo geht, wo man isst oder so ähnlich?«
Lewandowski machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Wir gehen da ja auch nicht mit meiner ID rein und bitten sie freundlich, uns den Scheiß auszuhändigen. Deswegen habe ich Alessio und Adamo auch gesagt, dass ich die Aktion nicht leiten werde.«
»Und mich damit vermutlich aus dem Knast geholt.« Peter prostete seinem Gegenüber zu und trank aus.
Wenige Augenblicke später kam ein kleiner, verbeulter und an Armen und Oberkörper bereits stark angerosteter Roboter mit einer Flasche zum Tisch und schenkte ihm nach.
»War ein guter Nebeneffekt«, redete Lewandowski weiter. »Auch wenn ich nicht gedacht hätte, dass sie es schaffen. Ich wüsste gerne, wo Alessio den Androiden herhatte, der dafür benutzt wurde. Wir müssen mal noch sicherstellen, dass der nicht nach Hause telefonieren kann, falls geplant ist, ihn weiter einzusetzen. Aber egal. Hast du schon Pläne, wie du die Sache in der Uni angehen willst? Und vor allem wann?«
»Das mit dem Wann ist einfach. Am 3.Oktober.«
Auf Lewandowskis vielsagenden Gesichtsausdruck erwiderte er: »Ich weiß, es ist knapp. War Alessios Idee, aber ich halte sie ausnahmsweise für ziemlich gut. Und zum Wie habe ich zumindest eine grobe Idee.«
Jetzt war es an ihm zu Grinsen.
»Funktioniert dein Implantat noch?«
Lewandowskis Blick war für einen Moment erstaunt, dann wurde er nachdenklich.
»Ich hab es ewig nicht benutzt, aber es sollte alles funktionieren. Es ist halt schon relativ alt.«
»Weiß jemand in der Uni davon?«
»Nein. Die Operation war illegal, das kann ich dort niemandem sagen, auch wenn es für die Forschung natürlich von Interesse wäre.«
»Wieso sind die Dinger eigentlich verboten?«
»Ich weiß es nicht genau, die Akten dazu sind unter Verschluss. Alles was ich mitbekommen habe war, dass in den 2030er Jahren eine Zeit lang damit ziemlich viel Schindluder getrieben wurde. Manipulation und Betrug, daraufhin wurden sie als gefährlich eingestuft und vom Markt genommen.«
»Und wie stellst du dir meine Aufgabe bei der ganzen Nummer vor? Was soll ich mit meinem Implantat machen?«
Am Tisch hinter ihnen knallte einer der Männer seine Karten auf den Tisch und fing an schallend zu lachen. Die darauf folgende stark alkoholisierte Diskussion wurde so laut, dass Peter sich zu Lewandowski hinüber lehnen musste, um die Antwort nicht brüllen zu müssen.
In knappen Worten erklärte er Lewandowski seinen Plan.
Am Schluss blickte dieser ihn ernst an. »Klar kann ich den Überblick behalten, Polizei und alles andere auch, aber für die Nummer drinnen brauchen wir Lisa-Marie oder jemanden, der genauso gut, genauso schnell und genauso flexibel ist.«
Er warf Peter einen forschenden Blick zu.
»Ich weiß. Und wir können uns nicht zu viele Mitwisser leisten. Aber selbst wenn wir sie aus dem Knast kriegen, dürfte das kein Spaß mit ihr werden.«
Die Diskussion der Pokerrunde hinter ihnen war kurz davor, in eine handfeste Kneipenschlägerei auszuarten.
»Wenn die noch mehr Lärm machen kommen bald die Cops und machen den Laden für immer dicht.«, sagte Peter.
Einer der Männer sprang auf und ließ blitzschnell ein Messer aufschnappen. Er drückte es dem, der eben noch so laut gelacht hatte an die Kehle:
»Zeig mal, was du da im Ärmel hast.«
Der Gefragte versuchte noch seinen Arm wegzuziehen, doch der Mann mit dem Messer griff zu und zog eine Spielkarte hervor. Die beiden brüllten aufeinander ein.
»Ich glaube es wird Zeit zu gehen«, sagte Lewandowski.

Hinter verschlossenen Türen (3)

Guten Tag allerseits,

es hat eine Woche länger gedauert als erhofft, aber hier ist der neue Teil meiner Erzählung „Hinter verschlossenen Türen“. Ich wünsche euch viel Spaß damit, sobald ich absehen kann wieviel Teile es insgesamt werden, schreibe ich Release-Dates hier auf den Blog und werde dann mein möglichstes tun, mich auch an diese zu halten.

Bis dahin viel Vergnügen und eine schöne Zeit,
Arno / Larry

Hinter verschlossenen Türen – PDF

3.  Kapitel

Ein kurzer, heftiger Schmerz durchzuckte seine Hand. Er unterdrückte nur mit Mühe einen Aufschrei und wich zurück. Er sah, wie Fluffy sich nach ihm umdrehte. Ein fragender Blick stand auf dem Gesicht des Androiden. Warum konnte er nicht durch die Tür? Der Weg aus seiner Zelle war kein Problem gewesen. Er hatte sich an die Anweisungen auf dem Zettel gehalten, die Hand auf den Roboter gelegt und war von ihm ohne Probleme durch das elektrische Feld geführt worden. Auch die Eingangstür, der Weg hinaus in die freie Welt, hatte sich problemlos vor ihnen geöffnet, aber er konnte aus irgendeinem Grund das elektrische Feld nicht passieren. Er zog sich ein wenig zurück, damit er von außen nicht mehr sofort gesehen werden konnte, wie er hier vor der Tür stand.
»Hat diese Tür irgendeinen gesonderten Schutz?«
Fluffy registrierte, dass die Frage an ihn gerichtet war, und kam zurück durch die Tür.
»Positiv. Menschen benötigen eine zusätzliche Genehmigung um diese Tür in irgendeine Richtung zu passieren, die von der Steuerzentrale ausgehen muss.«
Zum tausendsten Mal fragte er sich, warum man diese Soldaten-ähnliche Sprache bei den Polizei-Robotern beibehalten hatte. Alle anderen Androiden benutzten doch auch völlig normale Sätze. Peter ermahnte sich selbst, sich auf das eigentliche Problem zu konzentrieren.
»Hast du eine Genehmigung für mich?«
»Negativ. Ich habe keinen Zugang zum Netz. Da ich ihn wiederholt nicht herstellen konnte, gehe ich davon aus, dass mein Chipsatz defekt ist und ausgetauscht werden muss.«
Peter massierte sich mit zwei Fingern die kleine Falte zwischen seinen Augenbrauen. Er musste nachdenken. Dieser Roboter hier schien deutlich bereitwilliger Auskunft zu erteilen, als es Fluffy in der Zelle stets getan hatte. Er sah fast genauso aus und schien genug Wissen zu haben. Derjenige, der den Zettel in seine Zelle geschickt hatte, hatte definitiv gewusst, was er tat. Soweit Peter wusste, hatte es immer als unmöglich gegolten, Polizei-Roboter zu manipulieren.
»Gibt es Sondergenehmigungen? Umstände, unter denen du mich hier auch so rauslassen kannst?«
»Negativ.«
Peter schlug mit der flachen Hand gegen die Wand. So kurz davor. Nicht mal ein halber Meter trennte ihn von der Freiheit.
»Kann die Tür verschiedene Menschen unterscheiden? Oder kriegt sie nur die Genehmigung für irgendeinen Menschen?«
»Negativ. Die Genehmigungen werden nach Anzahl der Menschen in bestimmten Zeitfenstern vergeben. Es ist unsere Aufgabe dafür zu sorgen, dass wir die richtigen Personen nach drinnen und draussen eskortieren.
Braver Fluffy. Zumindest ein kleiner Funken Hoffnung, nicht mehr als ein Glimmen.
»Ok, wann ist die nächste Entlassung?«
»Nach den letzten Aktualisierungen, die ich herunterladen konnte ist die nächste Entlassung in einem Jahr, zwei Monaten, drei Tagen und weniger als drei Stunden. Thomas Arnold Wesseldorf. Strafe: Drei Jahre wegen mehrfachen Diebstahls und …«
»Schon gut, mehr muss ich nicht wissen.«
Eine lange Pause trat ein, seine Hand spielte nervös und hektisch mit dem Silberkreuz.
»Neuer? Hörst du mich?«
Die Stimme kam von draußen. Dieses Schnarren kannte er.
»Skinny? Kannst du mich hier rausholen?«
Peter trat einen Schritt in Richtung der geöffneten Tür. Da stand er tatsächlich und leibhaftig, abgemagert wie eh und je. Er hielt ein kleines Tablet in seiner rechten Hand und sah mit ernstem Blick abwechselnd zu Peter und auf den Bildschirm.
»Ich arbeite dran, auch wenn mir langsam die Ideen ausgehen. Ich kann nicht auf diese Tür zugreifen, um sie zu manipulieren.«
»Ist von den anderen jemand da?«, fragte Peter in der Hoffnung, dass von denen möglicherweise jemand eine Idee haben könnte. »Vielleicht Lewandowski?«
Skinny lachte kurz auf.
»Dem Hundesohn würde ich es sogar zutrauen, diese Tür zu knacken, aber im Moment sind alle beschäftigt. Irgendwas ist bei den Vorbereitungen schiefgegangen.«
»Vorbereitungen für was?« Trotz seiner aktuellen Lage konnte Peter sich die Frage nicht verkneifen.
»Erzähl ich dir, wenn du draußen bist. Ich befürchte fast, wir müssen zu Plan B übergehen.«
»Was ist Plan B?«, fragte Peter, doch Skinny schien ihn nicht zu hören. Er war in seinen Computer vertieft und drückte hektisch darauf herum.
»Du solltest vielleicht von der Tür zurücktreten.«
»Was verdammt nochmal ist Plan B?«, schrie Peter ihn an. Ihm schwante nichts Gutes.
Skinny grinste schief.
»Ein Sprengsatz. Groß genug, um diese Tür und ein gutes Stück Mauer aus dem Weg zu räumen. Der Countdown läuft. 30 Sekunden. Wir sollten uns jetzt von der Tür zurückziehen    .«
»Bist du von allen guten Geistern verlassen?«
»Wieso? Ich hol dich hier raus, keine Sorge. Das klappt schon.«
»Ein Idiot mit einer Bombe, tolle Mischung«, murmelte Peter vor sich hin. Dann rief er Skinny zu: »Du jagst uns sämtliche Hundertschaften auf den Hals, die die Cops zu bieten haben, wenn du hier irgendwas in die Luft jagst. Und  denkst du nicht, dass die Wände des größten Gefängnisses der Stadt gegen Sprengsätze geschützt sind?«
Skinny wurde bleich, soweit sein Teint das zuließ, dann begann er hektisch auf seinem kleinen Computer herumzuhämmern. Dieser hatte gerade begonnen im Sekundentakt Pieptöne von sich zu geben. Peter ging ein paar Schritte zurück. Wenn die Sprengladung zündete würde er sich samt Fluffy in seine Zelle zurückziehen, bevor die Androiden in Uniform hier aufmarschierten. Nach ein paar weiteren Sekunden verstummte das Piepen und Peter lief langsam wieder zur Tür.
»Das nächste Mal denkst du erst nach, dann fragst du mich und dann tust du irgendwas, okay?«, sagte er.
Skinny wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Aber«, sagte Peter, »immerhin hast du mich auf eine Idee gebracht mit deinem Sprengsatz.« Er wandte sich um. »Fluffy, komm mal bitte her.« Der Roboter brauchte eine Weile, um zu verstehen, dass er gemeint war. »Ich habe noch ein paar Fragen.«

Eine knappe Stunde später kauerte Peter neben der Tür zu Füßen des Androiden und wartete gespannt. Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis Fluffy die Anzahl der heute eintreffenden Gefangenen samt Ankunftszeitpunkten in Erfahrung gebracht hatte, doch jetzt musste es jeden Augenblick soweit sein. Da er nicht wusste, ob der Roboter der den Gefangenen brachte, mit Wärmebildkameras ausgestattet sein würde, versuchte er zum einen Fluffy als Hindernis vor sich zu haben und sich zum anderen möglichst nicht zu bewegen. Peter hörte Schritte vor der Tür. Er spannte jeden Muskel im Körper an. Ein falscher Tritt, eine Sekunde Zögern und er würde vermutlich nie wieder die Sonne sehen. Es musste einfach klappen. Die Tür schwang auf. Der Roboter kam rückwärts hindurch und war gerade dabei, den Gefangenen hinter sich herzuziehen, der sich offenbar immer noch nach Leibeskräften gegen seine Verhaftung wehrte. In diesem Augenblick bebte der Boden unter ihnen. Der Knall der Explosion war ohrenbetäubend und Peter brauchte all seine Konzentration, um sich nicht die Ohren zuzuhalten. Der Roboter und sein Gefangener blieben beide ruhig stehen und sahen sich nach allen Seiten um, um die Herkunft des Knalls zu ergründen. Skinnys Timing war perfekt. In diesem Moment hielt sich Peter an dem Roboter fest und sprang durch die Tür nach draußen ins Freie. Er sprintete zur Seite weg und sah sich dabei kurz um. Fluffy war dicht hinter ihm. Der Roboter an der Tür hatte keine Hand frei, um zu schießen. Er hielt mit viel Mühe den Gefangenen, der wohl seine Chance auf Flucht gewittert hatte und nun wieder nach Leibeskräften versuchte, sich aus dem Griff seines Wärters zu winden. Peter drehte den Kopf gerade noch rechtzeitig nach vorne um das Loch im Asphalt zu sehen, doch es reichte nicht mehr um auszuweichen. Er hörte ein lautes Knacken während er der Länge nach hinschlug. Ein lauter Aufschrei ertönte. Erst nach ein paar Sekunden wurde ihm klar, dass er es war, der schrie. Er richtete sich wieder auf und lief so schnell er konnte weiter. Tränen füllten seine Augen vor Schmerz, doch er musste weiterlaufen, bei jedem Schritt einen weiteren Schrei unterdrückend. Wie schnell konnte der Wärter Verstärkung rufen? Peter hoffte, er hatte gesehen, dass Fluffy Uniform trug und hinter Peter herrannte und das als Versuch interpretiert, den Gefangenen wieder einzuholen.
Als er außer Sicht des Gefängnisses war, wurde er langsamer. Er bat Fluffy ihn zu stützen und gemeinsam schafften sie es in kürzester Zeit bis zu dem Haus, das Skinny ihm beschrieben hatte. Dort am Gartenzaun lehnte er jetzt auch, mindestens genauso außer Puste wie Peter selbst.
»Hat alles gut geklappt wie ich sehe«, sagte er. Dann fiel sein Blick auf Peters Bein. »Was ist denn da passiert?«
Peter schüttelte den Kopf. »Nichts, was der Doc nicht wieder hinbekommt. Wir rufen ihn nachher, jetzt lass uns reingehen, es kann nicht lange dauern, bis sie eine Großfahndung nach mir einleiten.«
Während er mit Fluffys Hilfe ins Haus humpelte, dachte er an die Gesichter der Gefangenen, als er heute an ihren Zellen vorbeigelaufen war. Manche entsetzt, manche voller Hoffnung, aber die meisten einfach unbeeindruckt. Sie hatten aufgegeben im tristen Alltag des Gefängnisses. Er musste um jeden Preis vermeiden, wieder dort zu landen.

Hinter verschlossenen Türen (2)

Einen wunderschönen guten Abend,

ich habe mich sehr über die Reaktionen zum ersten Teil der neuen Erzählung gefreut. Dieses Mal gibt es eine Premiere: Zum ersten Mal ist der aktuelle Stand der Geschichte auch als Ebook im MOBI-Format verfügbar. Falls noch andere Formate gewünscht werden, schreibt mir einen Kommentar oder eine E-Mail. Der nächste Teil soll wieder in ca. 2 Wochen erscheinen, also um den 10.September herum. Ich wünsche euch allen eine angenehme Woche

Fühlt euch gegrüßt,

Arno / Larry

Hinter verschlossenen Türen – PDF

2.  Kapitel

Toni war ein kleiner Fisch. Ein Handlanger, der keine wichtige Rolle spielte, und kaum jemals vertrauliche Informationen besaß. Bis man innerhalb der Hierarchie zu den Leuten gelangte, die wichtig waren, musste man von Toni aus viele Ebenen nach oben klettern. Kaum einem der so weit unten stand wurde je die Ehre zu teil, einen der beiden Köpfe der Organisation – die Brüder Adamo und Alessio – zu treffen. Doch ihm war diese Ehre heute gewährt worden und er war alles andere als glücklich darüber. Zumindest hatte er Adamos Umrisse gesehen und dessen Stimme gehört, die ihm aus dem Halbdunkel heraus Fragen gestellt hatte. Eine einzelne Glühbirne beleuchtete flackernd die Stelle, an der Toni zu stehen hatte. Es würde sich nicht lohnen, nun Tonis Aussehen und Gestalt näher zu beschreiben. Nicht weil er so ein kleiner Fisch war, der Grund dafür ist von einfacherer Natur.
Mit einem kräftigen Ruck zog Alessio das lange, gezackte Messer mit dem silbernen, eingravierten Adler im Griff wieder aus Tonis Rücken. Während dieser zu Boden ging erklang aus seinen Lungen ein letzter, erstickter Schrei. Für einen Augenblick herrschte im Raum vollkommene Ruhe. Dann trat Adamo in den Schein der Lampe und wandte sich mit ernstem Blick an die Zuschauer, die die letzten Minuten an den Wänden aufgereiht schweigend verfolgt hatten.
»So wird es jedem ergehen, der versucht mich oder meinen Bruder ans Messer zu liefern. Ich weiß, dass das Kopfgeld auf uns beträchtlich ist, umso besser müsst ihr eure Leute im Auge behalten.« Schweißperlen standen auf seiner Glatze, der 3-Tage-Bart und die Augenringe ließen ihn müde wirken, doch seine braunen Augen waren hellwach und trotz des schwachen Lichts hatte jeder im Raum das Gefühl, dass Adamos durchdringender Blick besonders lange auf ihm ruhte.
»Es ist kein großer Schaden entstanden. Er hatte keine Informationen, die unser Unternehmen hätten ernsthaft gefährden können, aber sie werden an der Universität jetzt umso wachsamer sein. Jeder hält sich penibel an meine Anweisungen, dann könnt ihr alle in wenigen Wochen mit deutlich besser gefüllten Taschen nach Hause gehen.«
Es klopfte an der Tür. Die Blicke der Anwesenden wanderten zur Tür, besorgt, es könnte eine Horde Polizei-Roboter davor stehen. Alessio war der einzige im Raum der seinen Bruder gut genug kannte, als dass er bei seinem Anblick erkannt hätte wie er bei dem Geräusch für einen winzigen Moment seine Selbstbeherrschung verlor und zusammenzuckte. Ein Zeichen davon, wie sehr die letzten Wochen an seinen Kräften gezehrt hatten. Doch auch er blickte in Richtung Tür.
Der Mann der eintrat sah keineswegs aus wie ein Polizei-Roboter. Dank des wenigen Lichts im Raum waren nur seine Umrisse zu sehen. Er sah abgemagert aus, wirkte aber nicht schwach oder gebrechlich.
»Skinny, du kommst genau richtig«, ergriff Adamo wieder das Wort. »Warte kurz. Wir sind hier gleich fertig.«
Damit wandte er sich wieder an den Rest seiner Vertrauten. »Die Aktion wird kompliziert, möglicherweise komplizierter als alles, was wir je gemacht haben. Also passt auf was ihr tut, was ihr sagt und mit wem ihr sprecht. Haltet euch an die Anweisungen. Wenn es Probleme gibt, sagt mir oder Alessio Bescheid. Es darf nicht noch mehr Fehler geben.« Er warf Tonis sterblichen Überresten einen abschätzigen Blick zu. »Ihr könnt gehen, und nehmt diesen Typen mit.«

»Denkst du, dieser Toni kann uns Probleme machen?«
Sie saßen in einem kleinen Konferenzraum im selben Gebäude. Skinny hatte gegenüber den beiden Brüdern Platz genommen und nachdenklich sein Kinn auf die Hand gestützt. Bei Licht war sein vernarbtes, mageres Gesicht kein angenehmer Anblick. Alessio antwortete ihm: »Ich denke, er wusste kaum etwas und hat versucht zu bluffen um das Kopfgeld zu bekommen. Die Cops hätten aus ihm aber auf jeden Fall die Namen seiner Kontakte herausbekommen können, wenn sie es nicht schon getan haben.« Seine schnarrende Stimme strahlte nicht die Souveränität und Autorität aus, die der ruhige Bariton seines Bruders verbreiten konnte. »Wir mussten ein Exempel sstatuieren. Vielleicht haben wir die Zügel in den vergangenen Monaten ein bisschen zu locker gelassen. Ohne Peter gab es nicht viel zu tun.«
»Womit wir auch beim Thema wären«, schaltete sich Adamo ein. »Du musst Peter aus dem Knast holen, ohne ihn schaffen wir es nicht.«
Skinny zog die Augenbrauen hoch. »Euch ist aber bewusst, dass es seit bestimmt 50 Jahren keinen Ausbruch gegeben hat, oder? Nicht, dass es nicht versucht worden wäre. Und selbst wenn wir es irgendwie schaffen, haben wir in kürzester Zeit drei oder vier Hundertschaften am Arsch kleben. Ihr müsst ganz schön verzweifelt sein.«
»Wir sind nicht verzweifelt«, zischte Alessio. »Glaubst du, wir haben all das nicht bedacht? Glaubst du wir wissen nicht selbst, was das für ein Risiko ist?«
»Beruhig dich, Brüderchen. Beruhig dich« Adamo hob beschwichtigend die Hände. »Und setz dich wieder. Kein Grund, sich aufzuregen. Wir sind nicht verzweifelt und auch sicher nicht lebensmüde, falls du dir da Sorgen machst. Ich arbeite seit seiner Verhaftung daran, einen Weg zu finden, ihn aus dem Knast zu bekommen. Wir können dir einiges an Material geben, für das Feintuning  und die Umsetzung bist du zuständig.«
Skinny kratzte sich nachdenklich am Kinn.
»Dein Grinsen sagt mir, dass du irgendein Ass im Ärmel hast, Adamo. Was macht dich so sicher, dass es machbar ist, Peter rauszuholen?«
»Wir haben letzte Woche einen AS1 aufgetrieben, dessen Rückenpanzerung offen war. Ansonsten ist er soweit wir erkennen konnten voll funktionsfähig. Wir haben es geschafft, seine Steuerung zu überbrücken und haben jetzt unseren privaten Polizeiroboter, der wenn alles glatt geht freien Zugang zu Peters Zelle haben müsste. Komm mit, ich zeig ihn dir.«
Adamos Handy klingelte. Wortlos reichte er es nach einem kurzen Blick darauf an seinen Bruder weiter, dann bedeutete er Skinny mitzukommen. Als sie durch die Gänge liefen, konnte Adamo die Zweifel auf Skinnys Gesicht ablesen. Gefängnisausbrüche waren ein schwieriges Thema, es gab kaum noch Menschen die sie überhaupt für möglich hielten. Noch vor einem Jahr hätte er selbst den Gedanken daran für lächerlich erachtet, aber jetzt hatten sie keine Wahl. Jeder andere Verlust wäre kein Problem gewesen, aber ohne Peters Fähigkeit die unmöglichsten Raubzüge bis ins kleinste Detail exakt zu planen und durchzuführen, war richtig große Beute ein Ding der Unmöglichkeit. Die Roboter der Polizei waren schlicht zu gut. Sie schliefen nicht, waren nie unaufmerksam und die Sicherheitsvorkehrungen der Universitäten, Labors und öffentlichen Einrichtungen waren zu perfekt.
Der Raum, in dem der AS1 verwahrt wurde, war ein Lagerraum für Technik, so lang wie eine Turnhalle, aber nur mit einer niedrigen Decke ausgestattet. In langgezogenen Regalen lagen Artefakte, die bei allen möglichen Unternehmungen in der Vergangenheit Verwendung gefunden hatten. Als sein Blick auf eine große, leicht verrostete Kettensäge fiel, schlich sich ein Lächeln auf Adamos Gesicht. Die Sache mit dem Bauunternehmen. Das waren noch Zeiten gewesen.
»Wie habt ihr das geschafft?« Skinny stand vor dem AS1 und betastete die Schweißnaht an der Rückseite. Ich dachte, es wäre unmöglich die Dinger irgendwo zu öffnen, ohne dass sie vollkommen unbrauchbar werden. Habt ihr ihn schon getestet?«
»Klar. Er funktioniert tadellos. Und glaub mir, wenn ich auch nur die geringste Ahnung hätte, wie man es schafft, sie vom Netz zu nehmen  und zu öffnen, würden hier hunderte dieser Dinger rumstehen, aber fürs Erste haben wir nur den einen zur Verfügung. Ich versuche Informationen zu beschaffen, wie wir mehr bekommen können. Das würde vieles erleichtern.«
Skinny schien durch die Gegenwart des AS1 an Zuversicht gewonnen zu haben.
»Ok, nehmen wir mal an, ich bekomme das hin«, sagte er nun mit einem Blick, wie ihn Alessio schon seit Monaten nicht mehr an ihm gesehen hatte. Die Vorstellung, den ersten Gefängnisausbruch seit Jahrzehnten zu verwirklichen, schien langsam ihren Reiz zu entfalten. »Angenommen, ich bekomme Peter aus dem Knast heraus. Wie geht es dann weiter? Wir müssen schnell von der Bildfläche verschwinden können.«
»Kein Problem. Wir haben ein Haus nicht weit entfernt gefunden, das seit ein paar Wochen leer steht. Dort kann er sich fürs Erste verstecken. Wenn die Aktion in der Uni gelaufen ist, überlegen wir uns was Längerfristiges. Aber denk daran: Auch wenn du ihn befreist – Er wird nicht begeistert sein, dass wir ihn so lange haben schmoren lassen, aber ich rede mit ihm wenn er hier ist.«
»Okay, schreib mir die Adresse auf und gib mir alles, was du über Peters Trakt und Zellennummer weißt. Ich werde schauen was ich tun kann. Wie viele Tage hab ich?«
»Höchstens drei, besser weniger. Du kannst…«
Hinter ihnen ging die Tür auf und Adamo trat ein. Sein Blick war ernst und er wirkte außer Atem.
»Lewandowski hat angerufen. Wir haben ein Problem.«

Hinter verschlossenen Türen (1)

Einen wunderschönen guten Abend,

ich habe mit einer neuen Erzählung angefangen, die die Fortsetzung von „Dem Ende entgegen“ bildet. Die Kapitel sollen in Abständen von ungefähr zwei Wochen erscheinen. Ich hoffe sie wird euch gefallen, über Resonanz jedweder Art freue ich mich wie immer sehr!

Fühlt euch herzlich gegrüßt,

Arno / Larry

Hinter verschlossenen Türen – PDF

1.  Kapitel

Ist es nicht seltsam, wenn eine Geschichte ihren Anfang an einer Tür nimmt? Auf den Stufen davor, ja, oder im Haus, das kann man erwarten. Gerade Häuser können so viele Geschichten erzählen. Davon, wer sie einst bewohnt hat und welche Narben sie davon getragen haben. Wie die Zeit sie verändert hat. Aber was gibt es schon groß über eine Tür zu sagen? Die, um die es hier geht, war eine sehr schlichte, nicht allzu auffällige Tür. Braunes Fichtenholz, das vor Jahrzehnten, als es noch neu und gepflegt gewesen war, bestimmt einen guten Eindruck auf den Beobachter hinterlassen hatte. Dazu ein kleiner, schnörkelloser Griff, dessen einstiges Strahlen mit den Jahren zu einem matten, abgegriffenen, silbernen Schimmer verkommenen war. Alles in allem wirkte die Tür wie viele andere in der Stadt. Alt und nicht gut geschützt. Doch bei genauerer Betrachtung konnte man erkennen, dass dieser Schein trog. Die Tür, an der unsere Geschichte beginnt, barg ein paar Besonderheiten. Nicht in ihrer Form oder dem Material. Nicht in dem elektrischen Schutzschild, der Unbefugten den Durchgang verweigerte. Auch nicht in ihrem Schloss – all das war im weitesten Sinne gewöhnlich. Besonders war das Haus, zu dem sie den Zugang regelte und die Menschen, die sie passierten. Ungewöhnlich ist ein gutes Wort um die meisten der Menschen zu klassifizieren, die durch sie hindurchgingen. Diese Menschen mochten Namen wie Lisa-Marie Wagner, Max Schneider oder Peter Neuer tragen, ganz normale Namen also. Aber ganz egal was man ihnen bei ihrer Geburt in die Geburtsurkunde geschrieben hatte und wie sie sich heute nannten, sie waren alles andere als normal. Sie waren Abschaum. Der Bodensatz der Gesellschaft. Viele von ihnen waren reich, manche durchaus angesehen, doch wenn sie durch diese Tür gingen, wurden sie unabhängig von ihrem Stand und ihrem Konto unweigerlich dem Bodensatz zugeordnet.
Man behauptet hin und wieder, Menschen würden ein Buch nach seinem Umschlag beurteilen. Das ist nicht mehr als ein Bruchteil der Wahrheit. Von entscheidender Bedeutung ist der Standort des Buches. Liegt es in einer großen, gut beleuchteten Buchhandlung für jeden gut sichtbar auf dem Bestsellertisch aus oder in der hintersten Ecke eines kleinen, verstaubten Antiquariats? In einer Kiste auf dem Flohmarkt oder durchnässt und achtlos weggeworfen am Straßenrand? So ähnlich verhielt es sich auch mit den Menschen, deren Schicksal sich hier im Haus abspielte.
Begegnete man einem von ihnen auf der Straße, ging man in den meisten Fällen weiter, ohne sich umzusehen. Wer erkennt schon einen Wahnsinnigen, der einen Anzug trägt, frisch rasiert ist und besonnen lächelt? Wer würde schon einen gesunden Geist erkennen, wenn der Mensch dazu sich die Haare rauft und schreiend und mit irrem Blick, nur mit einer Unterhose bekleidet, durch die Stadt rennt? Egal wie gut seine Gründe dafür sein mögen.
Doch wenn Menschen durch diese Tür in das Haus dahinter gingen, die Arme im unnachgiebigen Griff eines humanoiden Roboters in Uniform, manche sogar extra auf eine Bahre geschnallt, dann gab es keine Fragen mehr. Kein Interesse an ihrer Persönlichkeit und ihren inneren Werten. Sie wurden Ausgestoßene, über die man möglichst nicht sprach und für deren Befinden sich niemand interessierte. Wenige Verbrechen waren schlimm genug, um einen Menschen direkt hier landen zu lassen. Die meisten Delikte, bei denen man ertappt wurde, brachten nur eine Kürzung der allmonatlichen Rente, die heutzutage jedermann ein Leben lang erhielt. Erst, wenn man dreimal mit einem kleineren Verbrechen in Verbindung gebracht werden konnte, musste man durch die Tür treten und kam hoffentlich geläutert und gesetzestreu wieder heraus. Jede weitere Gesetzesübertretung brachte einem einen lebenslangen Aufenthalt. Gehen sie nicht über Los. Ziehen sie nie wieder auch nur einen einzigen Euro ein.
Für Mord, Vergewaltigung und andere Verbrechen solchen Ausmaßes konnte man sich auch beim ersten Versuch schon auf einen langen Urlaub ohne Wiederkehr hinter dieser Tür einrichten.
Jeder Insasse hatte einen zuständigen Roboter, denjenigen, der ihn verhaftet hatte. Dieser führte ihn in das Haus und in die Zelle, deren transparente, aus einem elektrischen Feld bestehende Wand sich hinter dem Gefangenen materialisierte. Transparent, so dass der Gefangene von nun an all diejenigen sehen konnte, die nach ihm in den Zellenblock gebracht wurden. Der Roboter kümmerte sich darum, dass die Zelle sauber war, er brachte dem Gefangenen das Essen und beantwortete einfache Fragen. Wieviel Uhr ist es? Welcher Tag ist heute? Nichts, was den Gefangenen oder das Gefängnis betraf. Der Roboter fuhr munter durch die durchsichtige Zellentür und jeder Neuankömmling probierte mindestens einmal, ihm zu folgen. Jüngere Männer verspürten nur einen starken Stromschlag, wohingegen es bei älteren Männern und Frauen oft bis zur Bewusstlosigkeit reichte. Man lernte schnell, dass man dieses Gebäude nicht verlassen konnte.
Durch die Tür war damals auch Peter Neuer gekommen. Wie von selbst hatte sie sich für ihn und seinen metallenen Wärter geöffnet und ihn hinein gebeten. Vorbei an zahlreichen Zellen bis hoch in den dritten Stock, den er seitdem nicht mehr verlassen hatte. Für ihn war es nicht der erste Gesetzesverstoß gewesen, der ihn in die ‚Haftanstalt I – Berlin & Brandenburg‘ gebracht hatte, auch nicht der dritte oder vierte. Allerdings der erste, der schiefgegangen war. Er war ein Mann der Tat, der genau planen und sich auch an Pläne halten konnte. Wenn man das von all seinen Kollegen hätte behaupten können, würde er sein Dasein heute noch auf freiem Fuß verbringen. Er hatte im Laufe der Wochen und Monate hier einige seiner alten Mitstreiter an seiner Zelle vorbeigehen sehen. Manche offensichtlich protestierend, andere mit ernster Miene und in Gedanken versunken. Keiner von ihnen hatte nach links oder rechts gesehen und ihn bemerkt – hören konnten sie ihn nicht. Der Durchgang mochte durchsichtig sein, doch er schottete die Zelle gegen Geräusche von draußen ab. 15 Jahre hatte er für die Sache bei Sony bekommen, von denen er noch mehr als 13 hier abzusitzen hatte.
Er war erfüllt von Wut. Wut auf Lisa-Marie, die alles versaut hatte, Wut auf seinen Bruder, der ihn im Stich gelassen hatte und vor allem Wut auf seine Auftraggeber, die ihn einfach hier sitzen ließen. Als er gesehen hatte, wie Lisa-Marie an seiner Zelle vorbeigeführt wurde, wäre er ihr für einen Augenblick am liebsten an die Gurgel gesprungen. Der Stromschlag war noch stärker gewesen als beim ersten Mal und hatte ihm für eine knappe Stunde das Bewusstsein geraubt. Seitdem war er nach außen hin ganz ruhig. Der Feuerball aus Wut in seinen Eingeweiden durfte nicht zu sehr sein Handeln bestimmen. Nachdenklich spielte er mit dem kleinen Silberkreuz um seinen Hals. Seine Zeit würde kommen wenn er hier wieder raus war. Bis dahin hatte er jede Menge Zeit, Pläne zu schmieden und die nächsten Coups zu planen. Er musste seine Reputation wiederherstellen. Ohne Crew ging es nicht, doch er würde neue Leute brauchen, auf die Alten konnte er sich jetzt nicht mehr verlassen.
Die ersten Wochen hatte er noch Hoffnung gehabt, allein hier raus zu kommen. Doch die Zelle gab nichts her, was ihm einen Ausbruch ermöglicht hätte. Er hatte versucht, den Wärter auseinanderzunehmen, um über dessen Elektronik und Platinen einen Weg zu finden, durch seine Zellentür zu kommen. Doch egal wie oft er ihn gegen die Wand geschlagen hatte, oder wie stark er auf ihn gesprungen war, die silberne Außenhülle mit den zwei dunkelblauen Streifen vom Kopf hinunter bis zu den Füßen hatte sich nicht merklich verändert. Ebenso wenig wie der Wärter auf diese Ausbrüche reagiert hatte. Die Streifen an der Seite waren ein wenig verkratzt und offensichtlich hatte er eins der Armgelenke des Wärters ein wenig lädiert. Seitdem sahen die Bewegungen des linken Arms nicht mehr ganz so flüssig aus, doch geholfen hatte das Peter nicht im geringsten. Es gab hier nichts, wo er ansetzen konnte, so hatte er sich darauf beschränkt, seinem Geist freien Lauf zu lassen.
Er hatte irgendwann aus einer Laune heraus angefangen, den Wärter ‚Fluffy‘ zu nennen, wie den Hund, den er als Junge gehabt hatte. Statt Stöckchen holte der Roboter eben Essen und er befolgte ebenso artig seine Kommandos, wie es Fluffy früher getan hatte. Auch wenn er nicht ‚Sitz‘ und ‚Platz‘ machen konnte, sondern nur sagen, wie viel Uhr es war und welchen Wochentag sie gerade hatten.
Peter saß da, starrte von seiner Pritsche aus die Wand an und dachte an Lisa-Marie. Ihre wunderschönen, fein geschwungenen Lippen, die mandelbraunen Augen. Er hatte sich von ihrem Aussehen und seinen Gefühlen zu ihr schwächen lassen und sich Fehler erlaubt. Er durfte keine Fehler machen. Letzten Endes trug auch er Schuld daran, dass er jetzt hier saß.
Fluffy betrat die Zelle. In seinen Händen hielt er eine Schüssel mit Tomatensuppe, die er neben Peters Pritsche abstellte. Ihm fielen die Veränderungen nicht gleich auf. Die Bewegung des Abstellens war flüssiger als sonst, als wäre der Arm nach so vielen Monaten heute in Fluffys kurzer Abwesenheit doch noch repariert worden. Auch die Streifen waren wieder vollkommen intakt. Hätte er Fluffys Rücken unter der Uniform betrachtet, hätte er eine ungewöhnliche Schweißnaht sehen können. Statt sich wie sonst während der Essenszeit in eine Ecke der Zelle zu stellen, blieb der Roboter diesmal vor Peters Pritsche stehen. Es dauerte einige Sekunden, bis ihm dieser Umstand bewusst wurde. Dann fiel sein Blick auf den kleinen weißen Zettel, den der Roboter in der ausgestreckten Hand hielt.

Dem Ende entgegen (11)

Einen wunderschönen guten Tag,

nun sind wir beim Finale der Geschichte angelangt. Danke für die Reaktionen, danke für die zahlreichen Klicks auf den Blog. Ich hab mich sehr über jede Form von Resonanz gefreut.

Hiermit erscheint „Dem Ende entgegen“ – Teil 11 von 11.

Ich wünsche ein schönes Osterwochenende!

Herzlichste Grüße

Larry deVito

Arno Wilhelm – Dem Ende entgegen – Download Kapitel 1 – 11

Kapitel 11

„Herzlich Willkommen beim PSH, meine Name ist Ingeborg Nolte.“
Tim schüttelte ihr die Hand, setzte sich und betrachtete die alte Dame skeptisch. War das irgendein Prototyp von dem er noch nie gehört hatte? Die meisten Modelle waren jung und entweder darauf getrimmt möglichst neutral auszusehen oder für einen möglichst hohen Bevölkerungsanteil attraktiv zu sein, aber diese Frau entsprach keiner Produktlinie, von der er je gehört hatte. Zu viele Falten, weiße Haare, und diese wachen, braunen Augen mit den tief in die Haut eingegrabenen Lachfältchen daneben. So einen Androiden hatte er noch nie gesehen. Tim versuchte einen Blick auf ihren Ringfinger zu erhaschen, doch dort trug sie einen dicken goldenen Ring, der es unmöglich machte, zu erkennen, ob sie einen Barcode hatte oder nicht. Die alte Frau bemerkte seinen Blick und lächelte.
„Es kommt nicht oft vor, dass wir Akademiker als Kunden haben, aber sie sind auch nicht der Erste.“
Sie zog den Ring vom Finger und präsentierte ihm ihre Hand. Sein irritierter Blick verbreiterte nur ihr freundliches Lächeln.
„Nein, ich trage keinen Barcode und ich bin auch keine Sonderanfertigung, falls sie im Begriff sind, das zu fragen. Ich bin kein Roboter.“
„Aber ich dachte, außerhalb der Unis arbeitet niemand mehr.“
Tim war vollkommen irritiert.
„Es muss niemand mehr arbeiten und das tut auch so gut wie niemand, aber unser Verein hat sich entschieden, diesen Arbeitsplatz nicht mit einem Roboter zu besetzen, solange es noch Menschen gibt, die ihn ausüben wollen.“
Das Lächeln der alten Frau wich einem ernsteren Gesichtsausdruck.
„Aber kommen wir doch lieber zu Ihnen. Erzählen Sie mir, welche Beweggründe sie hergebracht haben. Danach werde ich Ihnen dann ein bisschen was über die Geschichte des PSH erzählen, Ihnen erklären was wir hier machen und wie der heutige Abend ablaufen wird, falls Sie bei Ihrer Entscheidung bleiben.“
Tim räusperte sich und versuchte, nicht mehr auf Frau Noltes Ringfinger zu starren. Er überlegte einen Moment, wo er anfangen sollte.
„Vor drei Wochen kam ich heim und meine Frau saß im Wohnzimmer“, begann er. Er erzählte Frau Nolte alles. Alles was ihm einfiel. Alles was zwischen Helenas Tod und dem Moment passiert war, an dem er die Praxis betreten hatte. Nur das Gespräch mit Micha ließ er aus. Warum, war er sich nicht sicher. Er hatte das Gefühl, es passte nicht ins Bild. Frau Nolte saß die ganze Zeit nur da, nickte hin und wieder und blickte ihm mit ernster Miene in die Augen. Als er mit seinem Bericht geendet hatte, nickte sie erneut und holte eine dünne, schwarze Mappe aus einer Schublade ihres Schreibtischs hervor. Sie schlug die erste Seite auf und drehte sie, so dass Tim das Foto eines weißen Stuhls sehen konnte, der mit Fell überzogen zu sein schien.
„Sollten Sie sich nachher entscheiden, den letzten Schritt zu gehen, finden Sie hinter der schwarzen Tür, die Sie im Wartezimmer bereits gesehen haben diesen Stuhl.“
Frau Nolte zeigte auf eine der Armlehnen.
„Rechts sind zwei kleine Knöpfe angebracht. Einer grün, der andere rot. Wenn Sie den roten Knopf drücken, wird Ihnen mittels mehrerer winziger Nadeln, die aus dem Stuhl ausgefahren werden können, ein starkes Sedativum injiziert und gleich darauf ein hochkonzentriertes Nervengift, das zum sofortigen Herzstillstand führt. Das Sedativum ist nötig um sicherzustellen, dass Sie keinerlei Schmerzen dabei empfinden. Am besten krempeln Sie ihre Hosenbeine ein Stück hoch, und legen ihre Arme flach auf die Lehnen, damit die Injektionsnadeln auch die Haut treffen. Drücken Sie stattdessen den grünen Knopf, öffnet sich eine Tür direkt nach draußen, dort beginnt ein kleiner Park, der zu unserem Grundstück gehört. Da sind sie ungestört. Haben Sie dazu noch Fragen?“
„Kann ich, wenn ich mich dagegen entscheide, nicht einfach wieder durch die Tür hinaus gehen?“
Frau Nolte setzte ein mildes Lächeln auf.
„Die Tür verschließt sich hinter ihnen automatisch, damit hier niemand hereinspazieren kann und zum Stuhl laufen, der keinen Termin hat. Darum können Sie auch nicht einfach so wieder raus. Außerdem haben wir die Erfahrung gemacht, dass die meisten Menschen in diesem Moment froh um ein wenig Diskretion sind. Es könnte ja schon der nächste im Wartezimmer sitzen, sie verstehen?“
Tim nickte. Es fühlte sich komisch an, dieses Gespräch. Die Vorbereitung des eigenen Todes. Er hatte diesem Termin geradezu entgegen gefiebert, sich darauf gefreut, die ganze Last loszuwerden, doch im Moment spürte er nur ein bedrückendes Gefühl der Unsicherheit. Die Entscheidung war endgültig, es würde kein zurück geben. Gab es noch irgendetwas, was er von Frau Nolte wissen wollte? Ihm fehlten die Fragen. Während er noch seinen Gedanken nachhing, begann die alte Dame wieder zu sprechen.
„Ich wollte Ihnen noch etwas zur Geschichte des Vereins erzählen. In aller Kürze: Den Praxisverbund gibt es seit dem Jahre 2021 in Deutschland. Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, den Leuten, die aus dem Leben scheiden wollen, ein würdevolles Ende zu ermöglichen. Noch sind wir nicht so flächendeckend vertreten wie es uns recht wäre, aber es wird besser.“
Sie hielt einen Augenblick inne und schien über ihre nächsten Worte nachzudenken.
„Ichch muss Ihnen ehrlich sagen: Ganz sicher bin ich mir nicht, ob Ihr Grund ausreichend ist, um ihrem Leben ein Ende zu setzen.“
Tim starrte sie an. Unsicher, ob er gerade richtig gehört hatte.
„Aber ich…“
„Sie haben mir schon ausschweifend ihre Gründe dargelegt, warum Sie das möchten.“
Frau Nolte betonte das letzte Wort so langsam, als unterhielte sie sich mit einem Idioten, dachte Tim.
„Unsicher bin ich mir, ob es ein guter Grund ist. Ob es tatsächlich nötig ist, darum aus dem Leben zu scheiden, das ist es, woran ich zweifle.“
Micha hatte in dem Gespräch vorhin nichts davon gesagt, dass Frau Nolte versucht hätte, ihn von seiner Entscheidung abzubringen. Aber Micha hatte auch erzählt, dass sie bei ihm Wert darauf gelegt hatten, dass er pünktlich zu seinem Termin kam. Bei ihm hatte es keine Wartezeit gegeben. Irgendetwas stimmte hier nicht, dachte Tim, aber ihm war nicht ganz klar, was es war. Er schüttelte den Gedanken ab.
„Ich werde Sie definitiv nicht aufhalten. Setzen Sie sich ins Wartezimmer oder gehen Sie durch die schwarze Tür, setzen sich auf den Stuhl und denken Sie noch mal in Ruhe über alles nach. Ich verstehe, dass der Verlust schmerzhaft für Sie ist, aber glauben Sie mir, ich habe genug Verluste erlitten in meinem Leben. Es kommen auch wieder bessere Zeiten, in denen es weniger weh tut.“
Tim war sprachlos. Mit so einer Ansprache hatte er nicht gerechnet. Verständnis und Diskretion, ja, aber doch keine Kritik. Vor ihm erhob sich Frau Nolte aus ihrem Stuhl und streckte ihm die von Altersflecken übersäte Hand entgegen.
„Egal wie Sie sich entscheiden, ich hoffe es wird die richtige Entscheidung für Sie sein.“
Er stand ebenfalls auf, reichte ihr die Hand, noch immer ohne ein Wort zu sagen. Wie betäubt drehte er sich um und ging langsam zur Tür. Als er die Türklinke herunterdrückte und gerade den Raum verlassen wollte, fügten sich in seinem Kopf zwei Bausteine zusammen, die die ganze Zeit störend und sinnlos in den Weiten seines Kleinhirns herumgestanden hatten. So ergab es Sinn. Er drehte sich wieder zu Frau Nolte um, die ihn mit hochgezogenen Brauen ansah.
„Es war kein Zufall, oder?“
Sie blickte überrascht.
„Was war kein Zufall?“
„Das Zusammentreffen mit diesem Micha im Wartezimmer. Dass er einen richtigen Termin kriegt und ich eine Wartezeit. Das waren keine Zufälle oder Systemfehler. Sie haben ihn in seiner Entscheidung bestärkt und versuchen, mich von meiner abzubringen.“
In dem Lächeln auf Frau Noltes Gesicht war ein Hauch Schuldbewusstsein zu erkennen.
„Sie sind ein kluger Mann, Herr Fischer“, sagte sie.
Ihr Lächeln verärgerte Tim. War das hier ein Spiel für sie? Ein Witz?
„Aber Sie können doch nicht einfach…“
„Natürlich können wir“, unterbrach sie ihn. „Herr Dorfer, oder Micha, wie Sie ihn genannt haben, hatte eine schwere, finale Krankheit. Bei Ihnen ist der Grund seelischer Natur, da versuchen wir selbstverständlich herauszufinden, wie ernst es Ihnen eigentlich damit ist, zu sterben. Nicht aus Bosheit, sondern weil wir glauben, dass das Leben auch nach tragischen Einschnitten weitergehen kann. Regen Sie sich nicht unnötig auf, es geht nicht gegen Sie. In kritischen Zeiten ist es manchmal einfach schwer, Entscheidungen zu treffen. Setzten Sie sich ins Wartezimmer oder in den Raum nebenan und denken Sie in Ruhe über alles nach. Sie haben die Wahl.“
Es gab noch einiges, das Tim auf der Zunge lag, doch er hielt sich zurück. Er wollte die Dame nicht beleidigen. Sie hatte wahrscheinlich wirklich nur Gutes im Sinn gehabt. Stumm wandte er sich wieder um und ging nach draußen.

Das Wartezimmer war leer. Micha war nicht mehr da, doch auf seinem Stuhl lag ein kleiner, silberner Gegenstand, der Tim sofort ins Auge fiel. Wie hatte er nur die Münze vergessen können? Die ganzen letzten Tage über hatte er sie immer wieder in der Hand gehabt, so viel mit ihr gespielt und nun hatte er sie tatsächlich bei einem völlig Fremdem gelassen. Das Gespräch hatte ihn wohl einfach zu sehr durcheinander gebracht. Er nahm die Münze wieder an sich und drehte sie in der Hand hin und her. Helenas Bild rief jedes Mal wenn er es betrachtete so viele Erinnerungen in ihm wach. So wunderschöne Erinnerungen.
Spontan entschied er sich nicht hier im Wartezimmer Platz zu nehmen, er wollte heute niemandem mehr begegnen, der ihm erzählen konnte, dass sein Plan falsch war. Tim trat durch die schwarze Tür in den kleinen Raum dahinter.
Als sich seine Augen an das gedimmte, orange Licht gewöhnt hatten, betrachtete er in Ruhe die Gemälde, die an den vier Wänden hingen. Es waren schöne, professionelle Aufnahmen. Ob Helena wohl auch hier gewusst hätte, wer die Fotos gemacht hatte? Er konnte ein Meisterwerk der Fotografie nicht von einem gut gelungenen Urlaubsfoto unterscheiden und hatte sich nie die Mühe gemacht, sich damit zu beschäftigen. Erst als er in aller Ruhe die Bilder begutachtet hatte, wandte er seinen Blick zu dem Stuhl in der Mitte des Raumes, den er eben schon auf dem Foto gesehen hatte. War Micha hier vor ein paar Minuten gestorben? Oder hatte er die Praxis auf anderem Wege verlassen? Für einen kurzen Moment fragte er sich, ob Micha vielleicht nicht einfach ein Schauspieler gewesen sein könnte, mit dem Auftrag, ihn von seinen Plänen abzubringen, aber das war unwahrscheinlich. Er hatte schon am Nachmittag als sie sich gesehen hatten, ebenso ausgezehrt und am Ende gewirkt wie heute Abend in der Praxis. Das wäre zu viel Aufwand gewesen, niemand hatte ein so starkes Interesse daran, dass er überlebte. Kaum jemand würde Anteil daran nehmen, dass er nicht mehr da war. Er ging zu dem Stuhl.
Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, als er sich darauf niederließ. Wie viele Menschen hier wohl schon gestorben waren? Mit den Fingerspitzen strich er ganz vorsichtig über die kleinen Knöpfe in grün und rot, die am Ende der Armlehnen angebracht waren, darauf bedacht, keinen von ihnen auszulösen. In der anderen Hand hielt er noch immer die Münze. Unglaublich, dass er sie bei Micha gelassen hatte. So zerstreut wie heute war er selten gewesen.
Warum hatte er Micha so viel von sich erzählt? Vielleicht hätte er schon in den letzten Wochen jemanden zum Reden gebraucht und weil er niemanden fand am Ende Micha und Frau Nolte sein Herz ausgeschüttet. Aber wieso hatte er ihm nicht von der Trennung erzählt? Wieso nicht die ganze Geschichte? Schämte er sich für das, was passiert war? Wollte er sich in einem besseren Licht darstellen? Sich weniger schuldig fühlen für Helenas Tod? Seine Finger berührten das Plastik der beiden Knöpfe. Grün und Rot. Leben und Sterben. Es war ein bizarres Gefühl, dem Tod so nahe zu sein. Er widerstand der Versuchung, einfach sofort zu drücken, Helena zu folgen und dem elenden Nachdenken ein Ende zu setzen. Die Gespräche mit Frau Nolte und Micha hatten ihn zutiefst verunsichert. Natürlich war Michas körperliches Leiden etwas ganz anderes als der Verlust, den er erlitten hatte. Aber war es wirklich Unsinn, was er hier tun wollte? Sein Bedürfnis zu sterben war seit Helena nicht mehr da war unendlich groß geworden, immer noch größer. Würde es wirklich irgendwann vergehen? Er wollte nicht zu seinem alten Leben zurück, nicht wieder an die Uni, aber er konnte nicht bestreiten, dass Micha recht hatte. Er musste es letzten Endes auch nicht. Es gab kein Gesetz, das besagte, dass man ein Leben lang an der Uni bleiben musste. Auch er konnte sich eine Rente auszahlen lassen. Eigentlich hatte er nie wirklich darüber nachgedacht, den Job hinzuschmeißen, aber es war die richtige Idee.
War es im Zweifel besser, sein Leben lang zu trauern, als sein Leben zu beenden? Vielleicht. Oder nicht? Er hatte sich so sehr den Tod gewünscht, er vermisste Helena so sehr, so schrecklich schmerzhaft. Wie könnte er ohne sie weiterleben? Es hatte ihm geholfen, dass er endlich erzählt hatte, was in ihm vorging, aber was nun? Würde es besser werden? Er spürte, dass ihm dieser Stuhl unbehaglich war. Der Raum machte ihn nervös. Es wurde langsam Zeit. Zeit, etwas zu tun.
Vorsichtig legte er Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand auf je einen der Knöpfe.
Er musste eine Entscheidung treffen und tat es schließlich auch. Sein Finger drückte auf den Knopf.
Hinter ihm ertönte ein metallisches Klicken. Als er sich umsah, entdeckte er einen Spalt, durch den Licht herein fiel. Er stand aus dem Stuhl auf, betrachtete ihn einen letzten Augenblick. Dann wandte er sich ab.
Eine schmale Tür, die mit Tapete bedeckt war, hatte sich am Ende des Raumes geöffnet. Tim trat hinaus und sah vor sich ein Wäldchen, genau wie es Frau Nolte beschrieben hatte. Kleine Lampen, die ihm bis zum Knie reichten, säumten einen Waldweg, der zwischen die Bäume führte. Tim atmete tief durch und begann zu laufen. Einfach zu laufen. Irgendwann würde der Waldweg enden und er würde alles hinter sich lassen. Vielleicht würde er sogar Berlin in naher Zukunft verlassen, nur einige wenige Sachen und die Fotoalben mitnehmen, damit er sich immer an Helena erinnern konnte. Darüber konnte er sich in den nächsten Tagen Gedanken machen. Jetzt hatte er ja Zeit. Beim Laufen spürte er, dass etwas in seiner hinteren Hosentasche steckte und er tastete danach. Es war der Brief von Anna, den sie ihm heute geschrieben hatte. Er musste an ihre Liebeserklärung darin denken. Nein, er würde sich nicht bei ihr melden und er würde ihr auch niemals näher kommen. Die Wunden, die Helenas Tod geschlagen hatte, waren zu tief. Die Lücke, die sie hinterließ zu groß. Er war sich nicht einmal sicher, ob er jemals einen anderen Menschen lieben könnte, noch dazu war Anna viel zu jung und eine Studentin. Aber es war auf eine seltsame Art schön, zu wissen, dass es einen Menschen gab, der an ihn dachte. Einen Menschen, dem er nicht egal war.
Während er den Weg weiterlief, spürte Tim eine gewisse Erleichterung. Er ging einem neuen Leben entgegen. Es fühlte sich richtig an.

Dem Ende entgegen (10)

Guten Tag allerseits,

ich vermute, mit der Geschichte wird es noch diese Woche zuende gehen. Kommen wir also zum vorletzten Teil von „Dem Ende entgegen“.

Ich hoffe er wird euch gefallen und wer Zeit hat, kommt morgen Abend zum Dichtungsring im Laika in Berlin.

Viele herzlichste Grüße
Larry deVito

Arno Wilhelm – Dem Ende entgegen – Download Kapitel 1 – 10

Kapitel 10

Als die Tür ins Schloss fiel lehnte Micha sich in seinem Stuhl zurück. Als Teenager war er oft mit Freunden und Bekannten im Urlaub zum Klippenspringen gegangen. Das Gefühl, am Rand einer sehr hohen Klippe zu stehen und nach unten ins Wasser zu blicken, ähnelte dem, was er im Augenblick empfand, sehr. Er wusste, er würde den letzten Schritt tun, doch noch rang er mit sich selbst, um den richtigen Zeitpunkt zu finden. Was für eine seltsame Unterhaltung das eben gewesen war, dachte er. Sein Gefühl sagte ihm, dass er mit seiner Ansprache irgendwas in Tim bewirkt hatte. Ob das reichen würde, um ihn von dem Grund, aus dem er hier war, abzubringen? Sicher war er sich nicht, doch zu wissen, dass er versucht hatte, jemandem vor einem so großen Fehler zu bewahren, gab ihm ein gutes Gefühl. Vielleicht war das der Sinn, nachdem er in den vergangenen Tagen gesucht hatte. Auf seinem letzten Weg jemand anderem zu helfen, damit dieser seinen Weg änderte. Er würde nie erfahren, ob er etwas bewirkt hatte.
Es war ein angenehmer Zufall gewesen, dass sie sich hier ein zweites Mal über den Weg gelaufen waren. Seit seiner Diagnose hatte er mit niemandem darüber geredet. Es Tim zu erzählen hatte ihn erleichtert und ihm ein wenig seine Angst genommen. Auch Frau Nolte, die alte Frau im Sprechzimmer, hatte sehr verständnisvoll gewirkt. Das Gespräch mit ihr war angenehm gewesen. Ohne Vorwürfe, ohne Zeitdruck oder Smalltalk.
Er musste an seine Eltern denken. Hätten sie vielleicht auch so reagiert, wenn er es ihnen doch selbst gesagt hätte? Wann seine Mutter wohl den Brief fand? Hoffentlich erlitt sie davon keinen Herzinfarkt, das wäre furchtbar. Sein Vater hätte alleine keine Chance, der bekam sein Leben ohne seine Frau nicht auf die Reihe. Genau genommen wusste er nach all den Jahren in dem Haus bis heute nicht einmal, wo seine Socken zu finden waren. Beim Gedanken daran, dass seinen Eltern wegen ihm etwas zustoßen könnte, spannte sich Michas ganzer Körper an.
Er spürte, als sich seine Hände verkrampften, dass seine rechte Hand etwas umklammerte. Als er hinab sah, bemerkte er, dass er immer noch Tims silberne Münze in der Hand hielt. Er hatte vergessen, sie ihm zurückzugeben, nachdem er sie in Augenschein genommen hatte. Auf beiden Seiten waren Menschen im Profil eingraviert. Bei der einen Seite vermutete er, dass es sich um einen deutlich jüngeren Tim handelte. Dann musste das auf der anderen Seite seine Frau sein. Im Profil konnte Micha nicht genug erkennen, um sagen zu können, ob sie eine hübsche Frau gewesen war. Es musste ein tolles Gefühl sein, einen Menschen so sehr zu lieben.
Am Rand der Münze stand ein Datum und in feinen, winzigen Buchstaben war „T.F. & H.F.“ eingraviert. Tim und H. Fischer. Wofür das H wohl stand? Er spürte ein wenig Neid gegenüber Tim, für die vielen Jahre, die er gehabt hatte und vielleicht noch haben würde. Neid auf all das, was Tim mit seiner Frau erlebt hatte. Ob sie sich wohl Kinder gewünscht hatten? Vermutlich gab es keine, sonst hätte Tim sicher noch mehr Gründe gehabt, weiterzuleben, auch nach dem Tod seiner Frau. Er wirkte nicht wie der Typ, der seine Kinder im Stich ließ. Er hatte nur sehr unglücklich gewirkt und von Trauer und Schlafmangel zermürbt. Hoffentlich änderte er seinen Plan noch.
Micha gab sich alle Mühe, den immer wieder aufkommenden Hustenreiz zu unterdrücken. Mittlerweile brannten seine Lungen bei jedem einzelnen Atemzug wie Feuer. Gut, dass er heute einen Termin bekommen hatte und nicht erst in ein paar Tagen. Möglicherweise hätte er dann schon nicht mehr die Kraft dafür gehabt. Die Kraft für das, was jetzt zu tun war.
Er raffte sich auf, legte die Münze auf einen Stuhl neben sich, stand auf und ging zur schwarzen Tür am Ende des Zimmers. Zuerst legte er die Hand auf die Klinke und spürte das kalte Metall. Er drückte sie langsam herunter und öffnete den Durchgang zu einem kleinen, von einer Lampe an der Decke schwach mit orangem Licht ausgeleuchteten Raum. Die Einrichtung nahm er nur schemenhaft wahr. Das weiße Licht des Wartezimmers bildete zur Dunkelheit dieses Raumes einen starken Kontrast. Als er eintrat fiel die Tür hinter ihm von alleine ins Schloss. Sein Herz begann wieder schneller zu pochen. Ein neuer Hustenanfall brach sich Bahn und zwang Micha für einen kurzen Moment in die Knie, doch dieses Mal ging es schnell vorbei. Als er sich wieder aufrichtete, hatten sich seine Augen gut genug an das Licht gewöhnt, dass er die Einrichtung des Raumes genauer erkennen konnte. An den Wänden hingen große Leinwände, größer als die im Wartezimmer, die verschiedene Landschaftsaufnahmen zeigten. An einer Zimmerseite konnte Micha Bilder vom Grand Canyon erkennen, an dessen Rand war er letztes Jahr noch selbst gestanden. Die anderen Wände waren mit Strand- und Dschungelphotos behangen. In der Mitte des Raumes stand ein weißer, gepolsterter Stuhl mit breiten Armlehnen. Auf der rechten Seite waren am Ende der Armlehne zwei kleine Knöpfe angebracht, genau wie es Frau Nolte ihm beschrieben hatte. Micha atmete tief durch. Der Gedanke, dass er gleich sterben würde, war so unwirklich, so schwer zu verstehen. Ein Knopfdruck und er setzte seinem Leben ein Ende. In der Schule hatte man ihnen in Geschichte von Piloten erzählt, die im Krieg Kampfflugzeuge geflogen hatten, daran konnte sich Micha noch gut erinnern. Hatte er nicht sogar ein Referat darüber gehalten? Diese Piloten hatten ebenfalls kleine Knöpfe gehabt, um Raketen oder Bomben abzufeuern. Auch sie hatten per Knopfdruck über Leben und Tod entschieden, genau wie er es gleich tun würde. Nur war es bei ihnen nicht darum gegangen, über ihr eigenes Leben zu entscheiden, sondern über das irgendwelcher anonymer Opfer. So ähnlich und doch so unterschiedlich. Was es wohl für ein Gefühl gewesen war, etwas so furchtbares per Knopfdruck zu tun? Wenigstens hatte er einen guten Grund für das was er tat und es kam niemand anderer dabei zu Schaden.
Micha setzte sich hin und krempelte seine Hosenbeine ein Stück hoch, genau wie Frau Nolte es ihm erklärt hatte. Dann lehnte er sich in dem Sessel zurück. Der weiße Bezug schien aus einer Art Fell zu sein, er war sehr weich und bequem. Er ließ seine rechte Hand über den beiden Knöpfen schweben, nur wenige Zentimeter davon entfernt, die letzte Entscheidung seines Lebens zu treffen.
Den ganzen Tag über hatte Micha Angst vor diesem Moment gehabt. Angst davor, dass er es nicht schaffen würde, Angst zu versagen. Selbst bei dem Letzten was er auf Erden tun wollte, bei der selbstbestimmten Wahl, seinem Leben ein Ende zu setzen, nicht seinen Erwartungen gerecht zu werden. Frau Nolte hatte nur genickt, als er ihr das gesagt hatte und ihn mit ihrem von Falten durchzogenen Gesicht ernst angesehen.
„Sie müssen hier niemandem etwas beweisen“, hatte sie gesagt. „Das ist keine Prüfung, keiner hat Erwartungen, die sie erfüllen müssen.“
Doch was ihm tatsächlich Ruhe gebracht hatte, war das Gespräch mit Tim gewesen. Zu sehen, wie er auf die Nachricht reagierte, dass Micha Krebs hatte, und zu hören, aus was für banaleren Gründen jemand das Bedürfnis haben konnte, zu sterben. Und weil er das Gefühl hatte, Tim geholfen zu haben. Vielleicht hatte er es geschafft, seine Perspektive ein Stück gerade zu rücken. Egal wie schlimm der Verlust für Tim war, er war gesund und konnte für den Rest seiner Tage das Andenken an seine Frau wahren, ohne dass er deswegen selbst seine restliche Zeit auf Erden wegschmeißen musste.
Micha ließ seine Hand noch immer in der Luft über den zwei Knöpfen. Alles in allem war es doch ein guter Tag gewesen. Besser als erwartet. Besser, als es sich zwischendurch angefühlt hatte. Er musste an seine Eltern denken. Hoffentlich würden sie es gut verkraften, was mit ihrem einzigen Sohn geschehen war. Er hatte gehört, wenn jemand starb, bekam man von einem Androiden einen schwarzen Briefumschlag mit der Todesnachricht überbracht. Das war bestimmt ein Mythos. Einer von vielen.
Er betrachtete die Knöpfe. Einer von ihnen war grün, der andere rot. Langsam, mit ganz vorsichtigen Bewegungen, um keinen weiteren Hustenanfall zu provozieren setzte sich Micha aufrecht hin, legte seine Arme flach auf die Lehnen und atmete tief durch. Es wurde Zeit zu springen. Wie sich wohl dieses Mal das Meer anfühlen würde, wenn er durch die Oberfläche brach?
Beim Gedanken an die Sommer seiner Jugend lächelte er.
Er hielt den Atem an und ließ den Zeigefinger seiner rechten Hand langsam aber bestimmt auf den kleinen, roten Knopf sinken.

Dem Ende entgegen (8)

Einen wunderschönen guten Morgen allerseits,

nun nähern wir uns langsam dem Ende der Geschichte „Dem Ende entgegen“.
Ich wünsche viel Spaß mit Teil 8 von 11,

Viele Grüße
Larry deVito

Arno Wilhelm – Dem Ende entgegen – Download Kapitel 1 – 8

Kapitel 8

Seit einer Viertelstunde stand Micha nun schon vor dem Haus seiner Eltern und trat von einem Bein auf das andere. Warum ging er nicht einfach weiter? Oder warf den Brief endlich ein? Es hatte eine halbe Ewigkeit gedauert, bis er mit den paar Zeilen soweit zufrieden gewesen war, dass er sich vom Zoo aus auf den Weg hierher gemacht hatte. Doch jetzt stand er einfach nur da und traute sich nicht vom Fleck. Hatte er erwartet, seine Eltern würden ihn sehen und herauskommen? Vielleicht hatte er das insgeheim, sicher war er sich nicht. Die Chancen dafür standen schlecht. Als Bewohner eines Hauses, das zur einen Seite einen ausgedehnten, wunderschönen Park und zur anderen Seite eine kaum benutzte Seitenstraße Berlins als Aussicht hatte, neigten sie nicht dazu, ihre Tage damit zu verbringen, auf der Straßenseite aus dem Fenster zu sehen. Er konnte auch einfach klingeln. Was sie wohl sagen würden? Vermutlich würden sie entsetzt sein über seine Diagnose und schockiert über seinen Plan, vollkommen von den Neuigkeiten überfordert. Wahrscheinlich würde seine Mutter sich nur unnötig aufregen und sein Vater würde teilnahmslos wie immer in seinem Schaukelstuhl sitzen und seinen Käsekuchen essen. Die beiden waren emotional keine Stütze in schwierigen Zeiten. Er wollte es ihnen einfach nicht selbst erzählen, es widerstrebe ihm. Ein neuer Hustenanfall zwang Micha dazu, sich die Hand auf den schmerzenden Bauch zu pressen, um besser Husten zu können. Als er wieder ruhiger atmen konnte, besah er sich den Brief in seiner Hand. Zum Glück hatte der keinen Schaden genommen, nur der Gehweg schien ein paar Blutstropfen abbekommen zu haben. Es schien schlimmer zu werden. Wahrscheinlich war das die Aufregung und Angst vor dem Abend, die ihn dazu brachte noch mehr zu husten als in den letzten Tagen. Dazu kam, dass von der dauernden Husterei die Bauchmuskeln und seine Lungen vollkommen überstrapaziert waren und beide immer empfindlicher wurden.
Micha gab sich Mühe, ruhig zu atmen und beschloss, der Warterei ein Ende zu machen. Ein letztes Mal würde er den Brief noch lesen, ihn dann in den Briefkasten werfen und seiner Wege gehen. Es hatte keinen Zweck mit ihnen zu reden, also war es das Beste, es auch zu lassen. Er klappte den Brief auf.

Hallo Mama, Hallo Papa,
es tut mir ehrlich leid, dass ihr es auf diese Weise erfahrt, aber ich konnte es euch nicht selber sagen. Ich habe es nicht übers Herz gebracht. Schon seit ein paar Monaten habe ich Schmerzen und fühle mich nicht wohl. Letzte Woche war ich deswegen in einer Klinik und habe erfahren, dass ich Krebs in einem sehr späten Stadium habe, der nicht mehr heilbar ist. Ich habe kein Bedürfnis, die nächsten Monate dahinzusiechen, wenn eh keine Chance auf Besserung besteht, deswegen will ich dem Ganzen ein Ende setzen. Ich hatte ein schönes Leben und ich bin froh, dass ich so liebe und verständnisvolle Eltern wie euch hatte. Bitte verzeiht mir, dass ich euch nichts gesagt habe.
Ich liebe euch beide

Micha

Mit feuchten Augen faltete er den Brief wieder zusammen, warf ihn in den Briefkasten und drehte sich weg. So schnell es seine Lungen zuließen entfernte er sich vom Haus seiner Kindheit, von seinen Eltern, von den einzigen Menschen auf der Welt, die ihm etwas bedeuteten. Ursprünglich hatte er gehofft, der Tag würde ihm noch ein paar angenehme, letzte Erinnerungen bringen, im Moment spürte er davon leider nichts. Er versuchte, nicht zu weinen. Angst und Trauer zogen in seinem Kopf ihre Kreise. Noch konnte er den Termin auch absagen, einfach wieder nach Hause gehen und so tun, als wäre alles gut. Ein paar Tage würde das noch gut gehen, wenn es mit seiner Gesundheit im selben Tempo bergab ginge, wie bisher. Aber was dann? Die Schmerzen waren schon jetzt kaum auszuhalten, jeder Atemzug fühlte sich an, als ob tausende kleine Nadeln seine Lungen attackieren würden. Es war wichtig, dass er sich zusammenriss. Er bog in die Chomskyallee ein, von dort aus war es nicht mehr weit bis zur Praxis. Halb acht sollte er dort sein, pünktlich halb acht, hatte die Stimme am Telefon gesagt.
Nächtliche Dunkelheit hatte sich über Berlin gelegt und Micha fror ein wenig in seiner dünnen Jacke. Je kälter die Luft wurde, umso unangenehmer wurde sie in den Lungen. Endlich erreichte er die Kreuzung zur Turingstraße und konnte einen ersten Blick auf das weiße Haus erhaschen, in dem die sich die Praxis des PSH befand, die am nächsten an seiner Wohnung lag. Der Praxisverbund für Sterbehilfe e.V. hatte laut seiner Homepage, die Micha in den letzten Tagen gründlich durchforstet hatte, 8 Praxen in Berlin und fast 100 in ganz Deutschland. Sie befassten sich laut eigener Aussage damit, denjenigen, die das wünschten, „ein würdevolles Ende zu ermöglichen“.
Das Haus auf das er jetzt zulief kannte er schon von Bildern. Es war ein flacher, einstöckiger Bau, dessen Fenster verspiegelt waren, um keine Blicke nach drinnen zuzulassen. Vor der weißen Eingangstür blieb Micha stehen. Die Aufregung nahm weiter zu. Sein laut pochendes Herz konnte man vermutlich trotz der geschlossenen Tür im ganzen Haus hören. Wieder brach dieser schmerzhafte, nicht enden wollende Husten aus ihm hervor. Dicke, dunkelrote Blutstropfen flogen auf das Weiß der Eingangstür. Micha ließ sich für einen Moment auf die Knie sinken, seine Kraft reichte heute nicht mehr, um den Husten auszuhalten und gleichzeitig noch sein Körpergewicht zu tragen. Als der Husten wieder abebbte, hatten seine Lungen begonnen, bei jedem Ausatmen eine Art Pfeifton von sich zu geben. Er traute sich nicht mehr, tief einzuatmen. Es tat zu sehr weh.
Mühsam erhob er sich wieder, stützte sich an der Tür ab und betrachtete sie. Auf ihr war das Logo des PSH angebracht: Ein Kreuz und daneben eine Schlange, die sich um einen Stock wand. Letzteres hatte er schon bei manchen Krankenhäusern im Logo gesehen. Die beiden Zeichen zusammen sollten die Verbindung von Leben und Tod symbolisieren. Auch das hatte Micha die Homepage des PSH verraten. Nun war der Kopf der Schlange allerdings durch einige Blutspritzer befleckt. Micha suchte seine Taschen nach einem Tempo ab. Nach erfolgloser Suche wischte er das Blut einfach mit dem Ärmel seiner Jacke weg, was überraschend gut funktionierte. Jetzt sah zwar der Ärmel nicht mehr besonders gepflegt aus, aber da wo er jetzt hinging, würde das hoffentlich keine Rolle mehr spielen.
Langsam schob er die Tür auf und trat hindurch, hinein in das weiße Vorzimmer der Praxis. Alles hier war weiß. Die Wände, der Boden, der kleine Brunnen in der Ecke, selbst die Steine im Brunnen waren weiß. An einer Seite stand ein großer Aufsteller mit Flyern des PSH. Die Fenster, die von außen keine Blicke hereinließen und aussahen, wie überdimensionierte Spiegel, waren von der Innenseite durchsichtig. Man konnte von diesem Vorraum aus die Straße überblicken, ohne selbst gesehen zu werden. Eine gute Idee, dachte Micha, für den Fall, dass jemand wieder gehen wollte, ohne gesehen zu werden. Er unterdrückte das Bedürfnis eben das zu tun. Vor Aufregung waren seine Hände schweißnass.
Der Eingangstür gegenüber befand sich eine Tür, auf der ein Schild angebracht war. Darauf stand in großen Lettern „Wartezimmer“ und darunter in klein waren die Worte „Bitte treten Sie ein“ zu lesen. Micha sah auf die Uhr. Es war 19.33 Uhr, er war fast pünktlich. Er ging schnurstracks durch das Zimmer, bedacht, nicht zu husten, um keine roten Tupfer in dem strahlenden Weiß des Raumes zu hinterlassen. Das Wartezimmer war menschenleer und fast identisch mit dem Raum zuvor, nur dass hier links und rechts je drei weiße Stühle standen. Über jeder der Stuhlreihen hing ein Gemälde, eine Ansammlung von weißen und schwarzen Kreisen und Rechtecken.
Am Ende des Zimmers befanden sich zwei Türen. Die Linke war weiß und die Rechte schwarz. Ein paar Sekunden blickte Micha umher, doch er fand an keiner der beiden irgendeine Beschriftung. Gerade wollte er sich auf einem der Stühle niederlassen, da ging die weiße Tür auf und eine Stimme rief „Michael Ferdinand Dorfer“. Irgendetwas war merkwürdig an dieser Stimme, aber was war es?
Er ging durch die Tür und fand sich in einem kleinen Büro wieder. Dort stand eine ältere Dame mit fast vollkommen weißen Haaren. Sie konnte nicht größer als einen Meter sechzig sein. Ihr Alter konnte Micha nicht schätzen, aber die vielen Falten und der leicht gebeugte Rücken ließen ihn vermuten, dass sie schon deutlich mehr Winter gesehen hatte als er. Es war selten, dass man jemanden sah, der wirklich viele Falten hatte. Unwillkürlich musste er an den Mann in der U-Bahn denken, der die ganze Zeit mit der Münze in seiner Hand gespielt hatte. Auch der hatte ungewöhnlich viele Falten gehabt. Zwei Akademiker an einem Tag zu sehen, wenn das mal kein seltsamer Zufall war.
Jetzt wurde ihm auch klar, was er an der Stimme so seltsam gefunden hatte, als er sie gerade gehört hatte. Es war eine menschliche Stimme gewesen, nicht eine der Computerstimmen, wie er sie gewohnt war.
Die Frau lächelte ihn zaghaft an und streckte ihm die Hand hin.
„Herr Dorfer?“
Micha nickte.
„Herzlich Willkommen beim PSH, meine Name ist Ingeborg Nolte.“ Micha schüttelte ihr die Hand und sie wies ihn mit einer Geste an, auf dem Stuhl Platz zu nehmen, der vor ihrem breiten, weißen Schreibtisch stand.
„Wenn Ihnen das Recht ist, würde ich zuerst einmal gerne etwas über ihre Beweggründe erfahren, diesen Schritt zu gehen. Sie können ganz frei erzählen. Danach werde ich Ihnen dann ein bisschen was über die Geschichte des PSH erzählen, Ihnen erklären was wir machen und wie der heutige Abend ablaufen wird, gesetzt den Fall, dass sie bei der Entscheidung bleiben.“
Frau Nolte hatte nun hinter ihrem Schreibtisch Platz genommen. Vor ihr lag ein Kuli und ein kleiner Notizblock, auf dem Michas Name stand. Nach wie vor trug ihr Gesicht dieses milde, zurückhaltende Lächeln, das Micha als eine Mischung aus Interesse und Fürsorge verstand.
„Erzählen Sie bitte ein bisschen was von sich. Warum haben Sie sich entschieden, diesen Weg zu wählen?“
Micha lehnte sich zurück, atmete so tief durch wie es ihm noch möglich war und fing an zu erzählen.

Dem Ende entgegen (6)

Einen wunderschönen guten Abend,

es hat ein wenig länger gedauert, als ich gehofft habe, aber hier kommt nun der sechste Teil der Erzählung „Dem Ende entgegen“. Damit ist mehr als die Hälfte der elf Teile fertig. In ein paar Tagen berichte ich hier auch darüber, warum das so lange gedauert hat mit dem sechsten Teil, soeben ist nämlich mein neuer Gedichtband erschienen, aber wie gesagt, dazu gibt es in ein paar Tagen noch News. Ansonsten habe ich das Layout des Blogs ein bisschen verfeinert. In der Spalte rechts gibt es jetzt auch ein neues Feld, da kann man immer sehen, welches Buch ich gerade so lese.

Ich wünsche euch viel Spaß mit dem neuen Teil,

Mit den besten Grüßen,
Larry deVito

Arno Wilhelm – Dem Ende entgegen – Download Kapitel 1 – 6

Kapitel 6

Glücklicherweise war heute im Zoo nicht viel los. Die Warteschlange vor dem Tigerhaus ging nicht wie üblich bis hinter zu den Elefanten und Giraffen. Nur ein junges Pärchen mit Kind war noch vor ihm dran. Die würden bestimmt nicht allzu lange brauchen. Auch er war in jungen Jahren ein paar Mal mit seinen Eltern hier gewesen, doch damals war er noch zu klein, zu ängstlich und hatte überhaupt keinen Gefallen an den wilden Tieren gefunden. Der Junge vor ihm war vielleicht sieben oder acht Jahre alt, leckte an einem Eis und besah sich mit großen Augen die Welt um ihn herum. Seine Eltern schmiegten sich aneinander und unterhielten sich leise. Micha befiel ein Anflug von Wehmut um all die Dinge, die er noch hätte erleben können, wenn seine Diagnose anders ausgefallen wäre oder die Chancen auf Heilung besser stünden. Er würde nie eine eigene Familie haben, nie lernen was es bedeutete, Vater zu sein. Natürlich war auch nicht gesagt, dass er jemals das Gefühl, eine eigene Familie zu haben, kennengelernt hätte, selbst wenn ihm noch 50 Jahre oder mehr geblieben wären. In den letzten Jahren hatte er sich kaum um solche Dinge geschert. Er war sein eigener Lebensmittelpunkt gewesen und damit auch gut gefahren. Nur seit dem Tag im Krankenhaus, seit er wusste, wie bald es vorbei sein würde, hatte er immer und immer wieder das Gefühl, er hätte irgendetwas größeres, bedeutungsvolleres mit seinen Jahren tun müssen. Etwas, das nicht nur seinem eigenen, kurzfristigen Wohl diente. In die Forschung gehen und beruflich erfolgreich werden zum Beispiel oder eben privates Glück finden. Doch weder das Eine noch das Andere hatte in seiner Macht gestanden, was also hätte er schon groß anders machen können?
Vor dem Pärchen ging die Tür auf und zwei schlaksige Jungs, die Micha auf 16 oder 17 schätzte, kamen aus dem Tigerhaus geschlurft. Beide wirkten aufgedreht und begeistert.
„War das geil“, sagte einer von beiden gerade, als sie an Micha vorbeikamen. „Müssen wir morgen gleich wieder machen.“
Sein Kumpel nickte nur grinsend und strich sich die fettigen, langen Haare aus dem Gesicht. Micha dachte an die ersten Male, die er allein oder mit Freunden hier gewesen war. Die zitternden Hände, die Aufregung. Das war toll gewesen. Mittlerweile war es halb Nostalgie, halb Bewunderung für die Anmut der Tiere, die ihn regelmäßig in den Zoo brachte. Angst oder Aufregung verspürte er dabei kaum noch. Vor ihm hob der junge Familienvater seinen Sohn hoch und folgte seiner Frau in die Schleuse. Die Türen schlossen sich und Micha bildete nun ganz allein die Warteschlange.
Es dauerte nur wenige Minuten, bis die drei wieder da waren, ganz wie Micha es vermutet hatte. Der kleine Junge schrie und weinte während seine Eltern sich alle Mühe gaben, ihn zu beruhigen. Wahrscheinlich hatten sie gedacht, sie würden ihm eine Freude bereiten, in dem sie ihm diese anmutigen Tiere zeigten. Das Gesicht des Kindes zeigte nur Angst, wenn überhaupt, würde erst in ein paar Stunden ein wenig Begeisterung einsetzen. Bestimmt kauften sie ihm jetzt auf den Schreck ein Eis, oder eine andere Süßigkeit. Die meisten Kinder waren so leicht zu abzulenken. Schade, dass man das auf dem Weg ins Erwachsenenalter irgendwann verlor, dachte Micha, mit einem Gedanken daran, wie er die letzten Tage verbracht hatte, als er nun selbst die paar Schritte durch die Türen ging und den roten Knopf drückte, damit die Schleuse sich schloss. Die Türen zum Inneren des Tigerhauses öffneten sich und er trat ein.
Er befand sich in einer großen Hütte, deren Inneres rundum mit Holz verkleidet war. Nur von außen war das Metall zu sehen, das die Außenwände aus Sicherheitsgründen umgab. Der Boden war aus Stein und übersät mit Dreck, der aussah wie eine Mischung aus Essensüberresten und Exkrementen. Eine Ecke war mit Stroh ausgepolstert, ansonsten wirkte der Raum vollkommen karg. Die riesige Klappe durch die die Tiere im Sommer in ihr großes Gehege konnten, war heute verschlossen. Hier war die Luft viel stickiger als draußen. Der Geruch der Tiere war markant und mit nichts vergleichbar, das Micha je an einem anderen Ort gerochen hatte. Insgesamt gab es hier im Zoo vier Tiger. Am Hals und an allen vier Pfoten trug jeder von ihnen dünne, silberne Metallbänder, die mit hochentwickelten Mikrochips und jeder Menge anderer Technik bestückt waren, die Micha nicht verstand.
Das einzige Tigerweibchen lag heute schlafend in der Ecke mit dem Stroh, sie schien sich an dem Weinen des kleinen Jungen vor wenigen Minuten nicht gestört zu haben. Die drei Männchen liefen unruhig vor ihr auf und ab, bisher hatten sie Micha noch nicht wahrgenommen. Es war jedes Mal aufs Neue unglaublich, wie grazil und katzenartig sie ihre schweren Körper bewegten. Langsam, ruhig und bedrohlich. Unter ihrem orangen Fell mit den schwarzen Streifen konnte er sehen, wie die Muskeln sich bewegten. Er spürte wie sein Herz schneller schlug. Vorsichtig machte Micha ein paar Schritte in ihre Richtung. Eines der Tiere hatte ihn bemerkt und kam langsam auf ihn zu, ohne den Blick auch nur für eine Sekunde abzuwenden. Zwischen ihnen war kein Gitter, kein massives Glas, nicht mal eine Bretterwand, die den Tiger von Micha fernhielt. Kein Wunder, dass Kinder die Faszination dieser Situation noch nicht verstehen konnten. Instinktiv spannte sich jeder Muskel im Körper an und es gehörte viel Überwindung dazu, die instinktive Fluchtreaktion zu unterdrücken.
Von den anderen Tigern hatte sich keiner für ihn interessiert. Vermutlich war derjenige, der auf ihn zukam, so eine Art Chef unter ihnen, aber obwohl er schon so oft hier gewesen war, wusste Micha nicht genug von Tigern, als dass er sich damit sicher gewesen wäre. Nur wenige Zentimeter vor ihm blieb der Tiger stehen. Micha streckte seine Hand aus, doch der Tiger machte sich nicht die Mühe seinen massiven Kiefer danach auszustrecken sondern roch nur an dem Neuankömmling. Er wusste, was Micha wusste.
Auch wenn es an sichtbaren Barrieren mangelte, konnte er ihn doch nicht erreichen, zumindest nicht mit dem Kiefer und auch nicht mit den Tatzen. Dafür sorgten die kleinen Metallbänder. Von ihnen ging irgendeine Art von Feld aus, die sie auf Distanz hielt. Es fühlte sich an, als würde man eine sehr warme, hauchdünne Oberfläche aus Glas berühren, unter der so viel Strom entlang floss, dass es sich anfühlte, als würde sie ständig leicht pulsieren. Man konnte sie nicht sehen und bekam auch keinen Stromschlag, doch es war unmöglich hindurch zu fassen.
Langsam beruhigte sich sein Puls wieder und er begann, dem Tiger über das Fell zu streichen. So etwas ließen sich nur Tiger gefallen, die schon sehr lange hier im Zoo waren. Die jüngeren versuchten meistens in die Hand zu beißen oder liefen weg. Manchmal wurden Tiere frisch gefangen und kamen dann hierher, die sprangen die Besucher auch schon mal an, mussten aber auch irgendwann einsehen, dass sie nicht gewinnen konnten, ohne ihre Tatzen und ihr Gebiss zu benutzen. Die Besucher kamen immer mit dem Schrecken und dem ein oder anderen blauen Fleck davon. Wie wohl die Roboter aussahen, die dafür zuständig waren, wilde Tiere für die Zoos einzufangen, fragte sich Micha. Es gab so viel, über das er noch nie nachgedacht hatte und nun würden alle Fragen unbeantwortet bleiben. Er versuchte, sich den Geruch dieses Ortes tief einzuprägen, während er immer noch das weiche Fell des Tigers berührte.
In diesem Augenblick stieg ohne Vorwarnung seines Körpers ein starker Hustenreiz in ihm auf, so dass er es nicht mehr rechtzeitig schaffte, sich die Hand vor den Mund zu halten. Er hustete lautstark und sprenkelte das Fell des Tigers mit winzigen Blutstropfen. Alle Tiere im Raum hatten mitten in ihren Bewegungen innegehalten und blickten zu ihm, selbst das Tigerweibchen in der Ecke war aufgewacht und hatte den Kopf gehoben, während Micha sich vor Schmerzen beim Husten krümmte und wand, den Arm auf seinen Oberkörper gepresst. Wie in einem Western, wenn man den Saloon betritt, dachte Micha. Die vier Tiere starrten ihn bewegungslos an, es fehlte nur der Pianist, der aufhörte zu spielen und vielleicht ein Ballen Heu, der irgendwo durchs Bild flog. Das kurze, gepresste Lachen, machte den Husten nur noch schmerzhafter. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Mit kleinen Schritten lief er zur Schleuse, die sich um ihn herum schloss und dann den Weg nach draußen freigab. Krampfhaft versuchte er möglichst ruhig zu atmen und brachte den Husten an der frischen Luft wieder unter Kontrolle.
Eine Gruppe Mädchen, vielleicht sieben oder acht, die nicht älter als 14 sein konnten, drängelte und schob sich an ihm vorbei, während er langsam den Eingangsbereich des Tigerhauses verließ. Niemand achtete auf ihn. Wahrscheinlich würden sie sich ein bisschen erschrecken, falls sie die Blutstropfen auf dem Fell des Tigers sahen. Micha hielt sich immer noch Bauch und Brustkorb, aber langsam beruhigte er sich wieder.
Nun gut, dachte er, die Erinnerung an seinen letzten Besuch hier hatte er sich schöner erhofft, aber er würde nicht noch einmal da hineingehen. Die schlechte Luft tat seinen kaputten Lungen alles andere als gut. Mühsam versuchte er sich zusammenzureißen und ging in Richtung des kleinen Cafés, in dem er nach den meisten seiner Besuche hier noch ein Bier getrunken hatte. Er überquerte den großen geteerten Platz, der die verschiedenen Teile des Zoos miteinander verband. Hier standen grell bunte Automaten, an denen man sich und seine Kinder mit Süßigkeiten versorgen konnte. Auf der anderen Seite des Platzes war das Café. Ein runder Raum, innen und außen quietschgelb gestrichen, bestückt mit kleinen Stühlen und Tischen. Außer ihm war heute niemand hier. Micha war froh, endlich eine Sitzgelegenheit zu haben. An einem kleinen, alten Servierautomaten drückte er den Knopf für ein großes Wasser, legte seinen Daumen zum bezahlen auf den Sensor und nach wenigen Sekunden öffnete sich eine Klappe, so dass er die Wasserflasche heraus nehmen konnte. Dazu angelte er sich noch eins der Briefpapiere, das mit dem Briefkopf des Zoos bedruckt war. Solches Briefpapier und Ansichtskarten mit allen möglichen Tieren darauf gab es hier zuhauf. Es war umsonst, wahrscheinlich weil es gute Werbung für den Zoo war.
Seufzend ließ er sich an einem der Tische nieder und trank die erste Hälfte der Wasserflasche in einem Zug aus. Den Entschluss, seinen Eltern einen Brief zu schreiben, hatte er bereits zuhause gefasst. Er musste es ihnen noch irgendwie mitteilen, sie durften es nicht erst erfahren, wenn schon alles vorbei war. Die Idee, den Brief gleich hier zu schreiben, war ihm dann auf dem Weg hierher gekommen. Nach einem letzten, beruhigenden Besuch bei den Tigern, würde es leichter von der Hand gehen, hatte er gedacht. So viel zu übersteigerten Erwartungen. Seufzend nahm er einen Stift vom Tisch und begann zu schreiben.

Hallo ihr Lieben,
entschuldigt, dass ich es euch nicht persönlich gesagt habe, aber was ich euch mitteilen muss

Micha hielt inne, zögerte, dann zerknüllte er den Zettel, warf ihn in den Mülleimer und holte sich ein neues Briefpapier, um von vorne zu beginnen. Schon die Anrede passte nicht. Wie brachte man etwas so gewaltiges auf Papier? Wie konnte er das mit der Diagnose erzählen? Erklären, warum er ihnen bisher nichts gesagt hatte? Was waren die richtigen Worte dafür? Sollte er ihnen sagen, was genau er vorhatte? Er spürte, wie Tränen seine Wangen hinunterliefen. Einige Minuten saß er einfach nur da und dachte nach, tief versunken in seinen Gedanken.
Dann begann er erneut zu schreiben.

Dem Ende entgegen (5)

Hallo zusammen,

weil’s momentan so schön rund läuft, kommt hier der fünfte Teil der Geschichte. Wir nähern uns der Halbzeit!
Bezüglich der Gattungsfindung habe ich zumindest bei Wikipedia ein gutes Zitat über Novellen gefunden:

„Als Gattung lässt sie sich nur schwer definieren und oft nur in Bezug auf andere Literaturarten abgrenzen. Hinsichtlich des Umfangs bemerkte Hugo Aust, die Novelle habe oft eine mittlere Länge, was sich darin zeigt, dass sie in einem Zug zu lesen sei.“

Ob das wohl das Richtige ist? Ich habe keine Ahnung…

Fühlt euch gegrüßt,
Sir Larry deVito

Arno Wilhelm – Dem Ende entgegen – Download Kapitel 1 – 5

Kapitel 5

Tim hatte sich auf eine Bank sinken lassen und versuchte, den Schmerz in seinem Rücken und seiner Hüfte zu ignorieren. Was für ein miese Idee es gewesen war, mit der U-Bahn zu fahren. Er wusste nicht genau, was ihn zu dieser Entscheidung bewogen hatte, aber er bereute sie im Moment zutiefst. Als er das letzte Mal in eine U-Bahn gestiegen war, konnten die Dinger noch nicht halb so schnell gefahren sein. Langsam drehte er die silberne Münze in seiner Hand, wegen der ihm nun sein Rücken so weh tat. Was hatte er auch während der Bahn-Fahrt mit ihr spielen müssen? Die Münze zeigte auf der einen Seite sein Profil und auf der anderen das von Helena. Am äußeren Rand waren ihre Initialen und das Datum ihrer Hochzeit eingraviert.
Es war sein Geschenk für Helena gewesen, an ihrem ersten Hochzeitstag. Am selben Tag an dem sie ihm die Taschenuhr geschenkt hatte. An dem Abend als sie gegangen war, hatte sie all ihre persönlichen Gegenstände aus der Wohnung mitgenommen, ihren Schmuck und ihre Klamotten, alles. Nur die Münze lag am nächsten Morgen noch in der Küche auf der Arbeitsplatte. Einzeln und trostlos, ohne eine Notiz und ohne eine Spur von ihr. An diesem elenden Morgen. Seither trug er sie immer bei sich und spielte immer dann mit ihr, wenn er besonders nervös war.
Auch die Situation in der U-Bahn war ihm unangenehm gewesen. Die hübsche blonde Frau neben ihm, die so penetrant laut Musik gehört hatte. Die ganzen Leute die ein- und ausgestiegen waren, mal dicht an ihn gedrängt, mal weit entfernt. Manche allein unterwegs, andere in kleinen Gruppen, aber alle so vollkommen anders als er, so fröhlich und vor allem so unglaublich nah. Ihre Stimmen, ihr Geruch. Er hatte sich sehr unwohl gefühlt. Warum war er überhaupt in die U-Bahn gestiegen? Was hatte er sich beweisen wollen? Möglicherweise eine Art Nähe zum „einfacheren“ Volk. Vielleicht hatte er versucht, wenigstens ein Stück zu sein wie sie, die er in den letzten Wochen so oft beneidet hatte. Was für ein lächerlicher Gedanke. Er war nicht wie sie, und würde es auch nie sein. Die Akademiker blieben unter sich und der Rest der Menschen wollte mit ihnen nichts zu tun haben. Tief in Gedanken darüber versunken, hatte er vergessen, sich auf die Münze zu konzentrieren, nur deshalb war sie ihm aus der Hand gerutscht. Was für ein Glück, dass ihm der junge Mann geholfen hatte, nach seiner idiotischen Bauchlandung.
Eigentlich war der Plan gewesen, vom Restaurant bis nach Hause mit der U-Bahn zu fahren, aber er hatte sich in der Bahn zu sehr vor sich selbst und dem jungen Mann geschämt, als dass er sich einfach wieder hätte hinsetzen können und so tun, als wäre nichts gewesen. Es war nicht mehr weit, das bisschen konnte er jetzt auch laufen, auch mit schmerzender Hüfte. Ein bisschen frische Luft würde ihm gut tun.
Früher hätte er sich nach so einem Erlebnis sein Handy geschnappt, Helena von der ganzen Sache berichtet und gemeinsam mit ihr darüber gelacht. Sie hätte ihm von ihrem Tag erzählt und davon, was sie heute noch vorhatte. Wie sie gemeinsam den Abend verbringen könnten. Solche Sachen hatten sie in den letzten Monaten ihrer Beziehung vernachlässigt, auch wenn es ihm währenddessen nie wirklich aufgefallen war. Doch in den letzten Wochen hatte er viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Zeit zu überlegen, was zwischen ihnen schief gelaufen war. Er stand von der Bank auf und machte sich auf den Weg nach Hause. Noch aus seinen Jugendjahren kannte er sich hier in der Gegend bestens aus, auch wenn er schon lange nicht mehr zu Fuß unterwegs gewesen war. Zeit war schließlich Geld.
Seine Taschenuhr verriet ihm, dass es jetzt Viertel vor Drei war. Punkt 15.00 Uhr hätte er eigentlich ein Treffen der Ausbildungskommission gehabt, und um 17.30 Uhr ein Meeting mit zwei vielversprechenden Doktoranden, aber die Termine hatte er beide schon vor Tagen abgesagt. Seine offizielle Begründung war gewesen, dass er noch an dem Paper für die Konferenz Anfang Januar schreiben musste. Theoretisch stimmte das, er hatte sogar schon ein Thema für das Paper gehabt, aber da er nicht vorhatte die Konferenz noch zu erleben, spielte es keine Rolle, ob seine Stellungnahme zum „Einfluss der neuesten Strömungen in der Datenspeicherung auf die Wirtschaftlichkeit der universitären Lehre“ rechtzeitig fertig wurde oder nicht.
Beim Gehen tat die Hüfte weniger weh, als sie es eben noch beim Sitzen auf der kalten Bank getan hatte, dennoch humpelte er leicht.
Langsam füllten sich die Straßen wieder mehr mit Passanten, die Mittagszeit war vorbei und jetzt gingen die Leute vermutlich zum nächsten Punkt in der Tagesordnung über. Oder sie gingen einfach von einem Lokal ins Nächste, was wusste er schon, dachte Tim schulterzuckend. Bloß weil er sie aus der Ferne beneidete, und bei seinen Studien manche ihrer Verhaltensweisen untersucht hatte, bedeutete das nicht, dass er verstand, wie die Durchschnittsbürger ihren Alltag verbrachten, und wie sich das für sie anfühlte.
Tim beobachtete die Leute um ihn herum, während er gemächlichen Schrittes nach Hause ging.
Auf der anderen Straßenseite erkannte eine kleine Gruppe von Studenten, die im letzten Semester gemeinsam mehrere Seminare bei ihm besucht hatten. Sie liefen in die entgegengesetzte Richtung. Die beiden jungen Männer waren vielleicht Mitte 20 und hatten beide lange Haare. Der eine war groß und so dünn, dass er wahrscheinlich nur knapp an der Grenze zur Magersucht lag. Im Gegensatz dazu war sein bester Freund recht kräftig. Neben seinem mageren Kommilitonen hatte er immer regelrecht fett gewirkt. Der dünne von beiden hieß Harald, wenn sich Tim richtig erinnerte, und der etwas korpulentere hörte auf den Namen Timotheus, wurde aber von den meisten Theo gerufen. Die beiden wurden von einer jungen Frau begleitet, an die sich Tim noch allzu gut erinnerte. Sie hieß Anna und war in den Kursen immer sehr aktiv und wissbegierig gewesen. Eine hübsche Frau mit einem glatten, fein geschnittenen Gesicht, einem schlanken, durchtrainierten Körper, den sie auch gerne in knappen, eng anliegenden Klamotten zur Schau stellte, und einem beeindruckend flinken Verstand. Ihre kurzen blonden Haare standen auch heute wieder in alle Richtungen vom Kopf ab. Tim hatte sie attraktiv gefunden, sicherlich. Sehr attraktiv, aber nicht mehr. Doch irgendwann im Laufe des Semesters hatte sie sich ein bisschen in ihn verguckt. Von einem Tag auf den anderen fing sie an, ihm kleine Zettelchen mit Liebesgedichten zu schreiben und zuzustecken. Nach den Sitzungen war sie immer noch etwas länger geblieben und hatte versucht mit ihm zu flirten. Ursprünglich hatte er vorgehabt, sie als eine seiner Doktorandinnen aufzunehmen, aber ihre immer deutlicheren Annäherungsversuche waren ihm zunehmend unangenehm geworden. Eines Tages, als sie nach dem Seminar allein im Raum gewesen waren, hatte Anna versucht ihn zu küssen und ihm dabei auch noch an den Hintern gefasst. Das war der Tropfen gewesen, der für ihn das Fass zum überlaufen gebracht hatte. Es war notwendig gewesen, ihr Grenzen aufzuzeigen, und das hatte er auch mit deutlichen Worten getan. Mit wässrigen Augen und gekränktem Stolz im Blick war sie einige Minuten später aus dem Saal geeilt. Von da an war sie in keinem seiner Kurse mehr aufgetaucht und auch die beiden Jungs nicht. Inzwischen hatte sie sich wohl erholt. Zumindest sah es so aus. Sie und dieser Harald hielten Händchen. Da hatte der junge Mann sicher den Fang seines Lebens gemacht, dachte Tim und musste lächeln.
Im selben Augenblick, als Tim so dastand und sie lächelnd von der anderen Straßenseite aus beobachtete, sah Anna zufällig herüber. Ihre Blicke trafen sich für einen kurzen Augenblick und Tim bildete sich ein, für eine Sekunde erneut verletzten Stolz in diesen schönen braunen Augen aufblitzen zu sehen. Stolz und etwas anderes, das er nicht einordnen konnte. Auf diese Entfernung musste es fast Einbildung sein, und doch spürte er ein flaues Gefühl im Magen. Ein Gefühl von Schuld, auch wenn er seiner Ansicht nach im Umgang mit der Studentin alles richtig gemacht hatte. Doch der Moment ging vorüber, Anna drehte sich zu ihrem Freund und ging weiter, ohne ein Zeichen, dass sie ihn gesehen hatte. Als hätte sie einfach durch ihn hindurchgeschaut.
Versunken in dieser Flut von Gedanken war Tim kurz stehen geblieben, doch jetzt trottete er weiter. Er fand es immer wieder aufs Neue befremdlich, dass er in einer so großen Stadt so oft Leute sah oder traf, die er kannte. Natürlich bewegte er sich normalerweise in erster Linie auf dem Campus, da war das abzusehen, aber auch in der Stadt selbst war es nicht anders. Selbst wenn er einmal im Jahrzehnt zu Fuß unterwegs war.
Als er eine Viertelstunde später sein Appartement erreichte, schwitzte er vor Anstrengung. Er spürte leichtes Seitenstechen von der ungewohnten sportlichen Betätigung und zu allem Überfluss schmerzten sein Rücken und seine Hüfte noch immer. Helena hätte jetzt bestimmt ein paar wunderbare Hausmittelchen parat gehabt. Kalte Umschläge oder so etwas.
Immer und immer wieder diese verdammten Gedanken an Helena, er wurde sie einfach nicht los. Sie verfolgten ihn, wohin er auch ging, was auch immer er tat. Von Morgens bis Abends. Selbst in seinen Träumen waren sie noch da. Er sah auf die Uhr. Zwanzig nach Drei. Nichteinmal mehr fünf Stunden, dann würde es vorbei sein, dachte er. Es wurde langsam aber sicher Zeit sich zu verabschieden.