Dann geh ich jetzt weiter und – nur keine Angst.
Gedichte (115)
Gedichte (114)
Gedichte (112)
Einen wunderschönen guten Tag,
momentan bin ich viel mit Arbeiten und ähnlichen Dingen beschäftigt, weswegen ich nicht so zum Schreiben komme, wie ich mir das wünschen würde, aber zumindest der nächste Roman macht kleine Fortschritte und hoffentlich bis zum Dichtungsring am 29.05. auch wieder ein paar Gedichte. Dieses hier habe ich vor ein paar Wochen aus aktuellem Anlass geschrieben, bisher haben mir die Grußkartenhersteller jedoch noch keine Millionen-Deals angeboten. Vielleicht geht da ja noch was.
Ich wünsche ein schönes Wochenende allerseits,
Herzlichste Grüße
Arno / Larry
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Mir selbst zum Geburtstag
Bin ein Schwede, ein Falter
Ein Narr, ein Verwalter
Kurz gesagt: Bin ein Alter
Eine Hütte, ein Haus
Seh zum Fenster hinaus
Sehe Sommer und Herbst
Es fror und es taute
Ich schlotterte derbst
Und schwitzte und glaubte
Die Hitze kaum zu ertragen
Ich durfte mich plagen
Mit Sturm und mit Regen
Durft‘ an Strände mich legen
Und arbeiten gehen
Beim S-Bahn erwarten
Mir die Füße wund stehen
Vor unzähligen Fahrten
Hab viel neues erlebt
Bin der Alte geblieben
Neue Netze gewebt
Neue Berge bestiegen
Ich lebe und liebe
Und laber zuviel
Laufe Schritt um Schritt weiter
Genieße das Spiel
Runde um Runde
und Jahr um Jahr
Und freu mich darüber
Ich bin immernoch da
Und das feier ich heute
Und das darf man auch sehen
Lad‘ sie ein, all die Leute
die den Weg mit mir gehen
Zu Berg und zu Tale
Stets voran ohne Sturz
Schmeiss mich in Schale
Und putz mir die Schnute
Dieses Jahr mach ich’s kurz:
Wünsch mir selbst alles Gute!
Gedichte (111)
Aus aktuellem Anlass:
Stadtgedichte 1
Hübsch und nicht allzu frivol
Deutlich bekannter als Tirol
Viel aufgeräumter als Berlin
So ist Wien.
Gedichte (110)
Der Rhythmus der Stadt
Das sanfte Rauschen der Straße
Die U-Bahn klappert im Takt
Touristen rümpfen die Nase
So klingt der Rhythmus der Stadt
Wo Türen sich öffnen und schließen
Gegenüber von hier kläfft ein Hund
Der lautstark hustende Nachbar
Klingt alles andere als gesund
Sprache fliesst ineinander
Ein babylonisches Gewirr
Gewebt aus so vielen Nationen
Über mir klappert Geschirr
Betrunkene lallen vorüber
Zwei Obdachlose verkaufen ihr Blatt
Auf den Dächern trommelt der Regen
So klingt der Rhythmus der Stadt
Gedichte (109)
Einen wunderschönen guten Morgen,
damit der Blog sich nicht so verwaist vorkommt, hier mal wieder ein neues Gedicht, auch wenn ich den Großteil meiner schreibenden Zeit gerade mit meinem nächsten Roman verbringe. Ich hoffe er wird im Sommer fertig. Verraten kann ich bis jetzt noch nichts darüber, dafür wird es im Mai einiges an Infos zu dem Roman geben, der im Sommer erscheint.
Außerdem muss hin und wieder einfach ein bisschen Liebeslyrik dabei sein…
Fühlt euch gegrüßt,
Arno / Larry
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Am tiefsten Punkt
Am allertiefsten Punkt der Nacht
Bin ich aus einem Traum erwacht
In meinem Bett, allein mit mir
Seit Wochen träum ich stets von dir
Von Luftschlössern und Eintagsfliegen
So gern würd‘ ich mit dir hier liegen
Dem Ende entgegen (11)
Einen wunderschönen guten Tag,
nun sind wir beim Finale der Geschichte angelangt. Danke für die Reaktionen, danke für die zahlreichen Klicks auf den Blog. Ich hab mich sehr über jede Form von Resonanz gefreut.
Hiermit erscheint „Dem Ende entgegen“ – Teil 11 von 11.
Ich wünsche ein schönes Osterwochenende!
Herzlichste Grüße
Larry deVito
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Arno Wilhelm – Dem Ende entgegen – Download Kapitel 1 – 11
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Kapitel 11
„Herzlich Willkommen beim PSH, meine Name ist Ingeborg Nolte.“
Tim schüttelte ihr die Hand, setzte sich und betrachtete die alte Dame skeptisch. War das irgendein Prototyp von dem er noch nie gehört hatte? Die meisten Modelle waren jung und entweder darauf getrimmt möglichst neutral auszusehen oder für einen möglichst hohen Bevölkerungsanteil attraktiv zu sein, aber diese Frau entsprach keiner Produktlinie, von der er je gehört hatte. Zu viele Falten, weiße Haare, und diese wachen, braunen Augen mit den tief in die Haut eingegrabenen Lachfältchen daneben. So einen Androiden hatte er noch nie gesehen. Tim versuchte einen Blick auf ihren Ringfinger zu erhaschen, doch dort trug sie einen dicken goldenen Ring, der es unmöglich machte, zu erkennen, ob sie einen Barcode hatte oder nicht. Die alte Frau bemerkte seinen Blick und lächelte.
„Es kommt nicht oft vor, dass wir Akademiker als Kunden haben, aber sie sind auch nicht der Erste.“
Sie zog den Ring vom Finger und präsentierte ihm ihre Hand. Sein irritierter Blick verbreiterte nur ihr freundliches Lächeln.
„Nein, ich trage keinen Barcode und ich bin auch keine Sonderanfertigung, falls sie im Begriff sind, das zu fragen. Ich bin kein Roboter.“
„Aber ich dachte, außerhalb der Unis arbeitet niemand mehr.“
Tim war vollkommen irritiert.
„Es muss niemand mehr arbeiten und das tut auch so gut wie niemand, aber unser Verein hat sich entschieden, diesen Arbeitsplatz nicht mit einem Roboter zu besetzen, solange es noch Menschen gibt, die ihn ausüben wollen.“
Das Lächeln der alten Frau wich einem ernsteren Gesichtsausdruck.
„Aber kommen wir doch lieber zu Ihnen. Erzählen Sie mir, welche Beweggründe sie hergebracht haben. Danach werde ich Ihnen dann ein bisschen was über die Geschichte des PSH erzählen, Ihnen erklären was wir hier machen und wie der heutige Abend ablaufen wird, falls Sie bei Ihrer Entscheidung bleiben.“
Tim räusperte sich und versuchte, nicht mehr auf Frau Noltes Ringfinger zu starren. Er überlegte einen Moment, wo er anfangen sollte.
„Vor drei Wochen kam ich heim und meine Frau saß im Wohnzimmer“, begann er. Er erzählte Frau Nolte alles. Alles was ihm einfiel. Alles was zwischen Helenas Tod und dem Moment passiert war, an dem er die Praxis betreten hatte. Nur das Gespräch mit Micha ließ er aus. Warum, war er sich nicht sicher. Er hatte das Gefühl, es passte nicht ins Bild. Frau Nolte saß die ganze Zeit nur da, nickte hin und wieder und blickte ihm mit ernster Miene in die Augen. Als er mit seinem Bericht geendet hatte, nickte sie erneut und holte eine dünne, schwarze Mappe aus einer Schublade ihres Schreibtischs hervor. Sie schlug die erste Seite auf und drehte sie, so dass Tim das Foto eines weißen Stuhls sehen konnte, der mit Fell überzogen zu sein schien.
„Sollten Sie sich nachher entscheiden, den letzten Schritt zu gehen, finden Sie hinter der schwarzen Tür, die Sie im Wartezimmer bereits gesehen haben diesen Stuhl.“
Frau Nolte zeigte auf eine der Armlehnen.
„Rechts sind zwei kleine Knöpfe angebracht. Einer grün, der andere rot. Wenn Sie den roten Knopf drücken, wird Ihnen mittels mehrerer winziger Nadeln, die aus dem Stuhl ausgefahren werden können, ein starkes Sedativum injiziert und gleich darauf ein hochkonzentriertes Nervengift, das zum sofortigen Herzstillstand führt. Das Sedativum ist nötig um sicherzustellen, dass Sie keinerlei Schmerzen dabei empfinden. Am besten krempeln Sie ihre Hosenbeine ein Stück hoch, und legen ihre Arme flach auf die Lehnen, damit die Injektionsnadeln auch die Haut treffen. Drücken Sie stattdessen den grünen Knopf, öffnet sich eine Tür direkt nach draußen, dort beginnt ein kleiner Park, der zu unserem Grundstück gehört. Da sind sie ungestört. Haben Sie dazu noch Fragen?“
„Kann ich, wenn ich mich dagegen entscheide, nicht einfach wieder durch die Tür hinaus gehen?“
Frau Nolte setzte ein mildes Lächeln auf.
„Die Tür verschließt sich hinter ihnen automatisch, damit hier niemand hereinspazieren kann und zum Stuhl laufen, der keinen Termin hat. Darum können Sie auch nicht einfach so wieder raus. Außerdem haben wir die Erfahrung gemacht, dass die meisten Menschen in diesem Moment froh um ein wenig Diskretion sind. Es könnte ja schon der nächste im Wartezimmer sitzen, sie verstehen?“
Tim nickte. Es fühlte sich komisch an, dieses Gespräch. Die Vorbereitung des eigenen Todes. Er hatte diesem Termin geradezu entgegen gefiebert, sich darauf gefreut, die ganze Last loszuwerden, doch im Moment spürte er nur ein bedrückendes Gefühl der Unsicherheit. Die Entscheidung war endgültig, es würde kein zurück geben. Gab es noch irgendetwas, was er von Frau Nolte wissen wollte? Ihm fehlten die Fragen. Während er noch seinen Gedanken nachhing, begann die alte Dame wieder zu sprechen.
„Ich wollte Ihnen noch etwas zur Geschichte des Vereins erzählen. In aller Kürze: Den Praxisverbund gibt es seit dem Jahre 2021 in Deutschland. Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, den Leuten, die aus dem Leben scheiden wollen, ein würdevolles Ende zu ermöglichen. Noch sind wir nicht so flächendeckend vertreten wie es uns recht wäre, aber es wird besser.“
Sie hielt einen Augenblick inne und schien über ihre nächsten Worte nachzudenken.
„Ichch muss Ihnen ehrlich sagen: Ganz sicher bin ich mir nicht, ob Ihr Grund ausreichend ist, um ihrem Leben ein Ende zu setzen.“
Tim starrte sie an. Unsicher, ob er gerade richtig gehört hatte.
„Aber ich…“
„Sie haben mir schon ausschweifend ihre Gründe dargelegt, warum Sie das möchten.“
Frau Nolte betonte das letzte Wort so langsam, als unterhielte sie sich mit einem Idioten, dachte Tim.
„Unsicher bin ich mir, ob es ein guter Grund ist. Ob es tatsächlich nötig ist, darum aus dem Leben zu scheiden, das ist es, woran ich zweifle.“
Micha hatte in dem Gespräch vorhin nichts davon gesagt, dass Frau Nolte versucht hätte, ihn von seiner Entscheidung abzubringen. Aber Micha hatte auch erzählt, dass sie bei ihm Wert darauf gelegt hatten, dass er pünktlich zu seinem Termin kam. Bei ihm hatte es keine Wartezeit gegeben. Irgendetwas stimmte hier nicht, dachte Tim, aber ihm war nicht ganz klar, was es war. Er schüttelte den Gedanken ab.
„Ich werde Sie definitiv nicht aufhalten. Setzen Sie sich ins Wartezimmer oder gehen Sie durch die schwarze Tür, setzen sich auf den Stuhl und denken Sie noch mal in Ruhe über alles nach. Ich verstehe, dass der Verlust schmerzhaft für Sie ist, aber glauben Sie mir, ich habe genug Verluste erlitten in meinem Leben. Es kommen auch wieder bessere Zeiten, in denen es weniger weh tut.“
Tim war sprachlos. Mit so einer Ansprache hatte er nicht gerechnet. Verständnis und Diskretion, ja, aber doch keine Kritik. Vor ihm erhob sich Frau Nolte aus ihrem Stuhl und streckte ihm die von Altersflecken übersäte Hand entgegen.
„Egal wie Sie sich entscheiden, ich hoffe es wird die richtige Entscheidung für Sie sein.“
Er stand ebenfalls auf, reichte ihr die Hand, noch immer ohne ein Wort zu sagen. Wie betäubt drehte er sich um und ging langsam zur Tür. Als er die Türklinke herunterdrückte und gerade den Raum verlassen wollte, fügten sich in seinem Kopf zwei Bausteine zusammen, die die ganze Zeit störend und sinnlos in den Weiten seines Kleinhirns herumgestanden hatten. So ergab es Sinn. Er drehte sich wieder zu Frau Nolte um, die ihn mit hochgezogenen Brauen ansah.
„Es war kein Zufall, oder?“
Sie blickte überrascht.
„Was war kein Zufall?“
„Das Zusammentreffen mit diesem Micha im Wartezimmer. Dass er einen richtigen Termin kriegt und ich eine Wartezeit. Das waren keine Zufälle oder Systemfehler. Sie haben ihn in seiner Entscheidung bestärkt und versuchen, mich von meiner abzubringen.“
In dem Lächeln auf Frau Noltes Gesicht war ein Hauch Schuldbewusstsein zu erkennen.
„Sie sind ein kluger Mann, Herr Fischer“, sagte sie.
Ihr Lächeln verärgerte Tim. War das hier ein Spiel für sie? Ein Witz?
„Aber Sie können doch nicht einfach…“
„Natürlich können wir“, unterbrach sie ihn. „Herr Dorfer, oder Micha, wie Sie ihn genannt haben, hatte eine schwere, finale Krankheit. Bei Ihnen ist der Grund seelischer Natur, da versuchen wir selbstverständlich herauszufinden, wie ernst es Ihnen eigentlich damit ist, zu sterben. Nicht aus Bosheit, sondern weil wir glauben, dass das Leben auch nach tragischen Einschnitten weitergehen kann. Regen Sie sich nicht unnötig auf, es geht nicht gegen Sie. In kritischen Zeiten ist es manchmal einfach schwer, Entscheidungen zu treffen. Setzten Sie sich ins Wartezimmer oder in den Raum nebenan und denken Sie in Ruhe über alles nach. Sie haben die Wahl.“
Es gab noch einiges, das Tim auf der Zunge lag, doch er hielt sich zurück. Er wollte die Dame nicht beleidigen. Sie hatte wahrscheinlich wirklich nur Gutes im Sinn gehabt. Stumm wandte er sich wieder um und ging nach draußen.
Das Wartezimmer war leer. Micha war nicht mehr da, doch auf seinem Stuhl lag ein kleiner, silberner Gegenstand, der Tim sofort ins Auge fiel. Wie hatte er nur die Münze vergessen können? Die ganzen letzten Tage über hatte er sie immer wieder in der Hand gehabt, so viel mit ihr gespielt und nun hatte er sie tatsächlich bei einem völlig Fremdem gelassen. Das Gespräch hatte ihn wohl einfach zu sehr durcheinander gebracht. Er nahm die Münze wieder an sich und drehte sie in der Hand hin und her. Helenas Bild rief jedes Mal wenn er es betrachtete so viele Erinnerungen in ihm wach. So wunderschöne Erinnerungen.
Spontan entschied er sich nicht hier im Wartezimmer Platz zu nehmen, er wollte heute niemandem mehr begegnen, der ihm erzählen konnte, dass sein Plan falsch war. Tim trat durch die schwarze Tür in den kleinen Raum dahinter.
Als sich seine Augen an das gedimmte, orange Licht gewöhnt hatten, betrachtete er in Ruhe die Gemälde, die an den vier Wänden hingen. Es waren schöne, professionelle Aufnahmen. Ob Helena wohl auch hier gewusst hätte, wer die Fotos gemacht hatte? Er konnte ein Meisterwerk der Fotografie nicht von einem gut gelungenen Urlaubsfoto unterscheiden und hatte sich nie die Mühe gemacht, sich damit zu beschäftigen. Erst als er in aller Ruhe die Bilder begutachtet hatte, wandte er seinen Blick zu dem Stuhl in der Mitte des Raumes, den er eben schon auf dem Foto gesehen hatte. War Micha hier vor ein paar Minuten gestorben? Oder hatte er die Praxis auf anderem Wege verlassen? Für einen kurzen Moment fragte er sich, ob Micha vielleicht nicht einfach ein Schauspieler gewesen sein könnte, mit dem Auftrag, ihn von seinen Plänen abzubringen, aber das war unwahrscheinlich. Er hatte schon am Nachmittag als sie sich gesehen hatten, ebenso ausgezehrt und am Ende gewirkt wie heute Abend in der Praxis. Das wäre zu viel Aufwand gewesen, niemand hatte ein so starkes Interesse daran, dass er überlebte. Kaum jemand würde Anteil daran nehmen, dass er nicht mehr da war. Er ging zu dem Stuhl.
Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, als er sich darauf niederließ. Wie viele Menschen hier wohl schon gestorben waren? Mit den Fingerspitzen strich er ganz vorsichtig über die kleinen Knöpfe in grün und rot, die am Ende der Armlehnen angebracht waren, darauf bedacht, keinen von ihnen auszulösen. In der anderen Hand hielt er noch immer die Münze. Unglaublich, dass er sie bei Micha gelassen hatte. So zerstreut wie heute war er selten gewesen.
Warum hatte er Micha so viel von sich erzählt? Vielleicht hätte er schon in den letzten Wochen jemanden zum Reden gebraucht und weil er niemanden fand am Ende Micha und Frau Nolte sein Herz ausgeschüttet. Aber wieso hatte er ihm nicht von der Trennung erzählt? Wieso nicht die ganze Geschichte? Schämte er sich für das, was passiert war? Wollte er sich in einem besseren Licht darstellen? Sich weniger schuldig fühlen für Helenas Tod? Seine Finger berührten das Plastik der beiden Knöpfe. Grün und Rot. Leben und Sterben. Es war ein bizarres Gefühl, dem Tod so nahe zu sein. Er widerstand der Versuchung, einfach sofort zu drücken, Helena zu folgen und dem elenden Nachdenken ein Ende zu setzen. Die Gespräche mit Frau Nolte und Micha hatten ihn zutiefst verunsichert. Natürlich war Michas körperliches Leiden etwas ganz anderes als der Verlust, den er erlitten hatte. Aber war es wirklich Unsinn, was er hier tun wollte? Sein Bedürfnis zu sterben war seit Helena nicht mehr da war unendlich groß geworden, immer noch größer. Würde es wirklich irgendwann vergehen? Er wollte nicht zu seinem alten Leben zurück, nicht wieder an die Uni, aber er konnte nicht bestreiten, dass Micha recht hatte. Er musste es letzten Endes auch nicht. Es gab kein Gesetz, das besagte, dass man ein Leben lang an der Uni bleiben musste. Auch er konnte sich eine Rente auszahlen lassen. Eigentlich hatte er nie wirklich darüber nachgedacht, den Job hinzuschmeißen, aber es war die richtige Idee.
War es im Zweifel besser, sein Leben lang zu trauern, als sein Leben zu beenden? Vielleicht. Oder nicht? Er hatte sich so sehr den Tod gewünscht, er vermisste Helena so sehr, so schrecklich schmerzhaft. Wie könnte er ohne sie weiterleben? Es hatte ihm geholfen, dass er endlich erzählt hatte, was in ihm vorging, aber was nun? Würde es besser werden? Er spürte, dass ihm dieser Stuhl unbehaglich war. Der Raum machte ihn nervös. Es wurde langsam Zeit. Zeit, etwas zu tun.
Vorsichtig legte er Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand auf je einen der Knöpfe.
Er musste eine Entscheidung treffen und tat es schließlich auch. Sein Finger drückte auf den Knopf.
Hinter ihm ertönte ein metallisches Klicken. Als er sich umsah, entdeckte er einen Spalt, durch den Licht herein fiel. Er stand aus dem Stuhl auf, betrachtete ihn einen letzten Augenblick. Dann wandte er sich ab.
Eine schmale Tür, die mit Tapete bedeckt war, hatte sich am Ende des Raumes geöffnet. Tim trat hinaus und sah vor sich ein Wäldchen, genau wie es Frau Nolte beschrieben hatte. Kleine Lampen, die ihm bis zum Knie reichten, säumten einen Waldweg, der zwischen die Bäume führte. Tim atmete tief durch und begann zu laufen. Einfach zu laufen. Irgendwann würde der Waldweg enden und er würde alles hinter sich lassen. Vielleicht würde er sogar Berlin in naher Zukunft verlassen, nur einige wenige Sachen und die Fotoalben mitnehmen, damit er sich immer an Helena erinnern konnte. Darüber konnte er sich in den nächsten Tagen Gedanken machen. Jetzt hatte er ja Zeit. Beim Laufen spürte er, dass etwas in seiner hinteren Hosentasche steckte und er tastete danach. Es war der Brief von Anna, den sie ihm heute geschrieben hatte. Er musste an ihre Liebeserklärung darin denken. Nein, er würde sich nicht bei ihr melden und er würde ihr auch niemals näher kommen. Die Wunden, die Helenas Tod geschlagen hatte, waren zu tief. Die Lücke, die sie hinterließ zu groß. Er war sich nicht einmal sicher, ob er jemals einen anderen Menschen lieben könnte, noch dazu war Anna viel zu jung und eine Studentin. Aber es war auf eine seltsame Art schön, zu wissen, dass es einen Menschen gab, der an ihn dachte. Einen Menschen, dem er nicht egal war.
Während er den Weg weiterlief, spürte Tim eine gewisse Erleichterung. Er ging einem neuen Leben entgegen. Es fühlte sich richtig an.
Gedichte (108)
Vergangene Zeiten
Ich streiche den Staub weg von der Kiste
Die ich vor Jahren einmal bestückt
Wenn ich schweren Herzens meine Sachen ausmiste
Ist mein Kopf längst in die Ferne entrückt
Tauch ein in die vergangenen Jahre
Seh Überreste einer vergessenen Zeit
Die Dinge, die ich hier aufbewahre
Beschwören den Geist der Vergangenheit
Uralte Fotos, Farben, Gerüche
Legen mir tiefste Erinnerung frei
Die Tante backt Kuchen in ihrer Küche
Ich staune und nasche und sitze dabei
Ein Haufen verstaubter Kuscheltiere
Sand in der Flasche aus dem Mittelmeer
Aus Lego gebaute, kleine Quartiere
Für Polizei, Diebe und Feuerwehr
Die Spieluhr an der ich als Kind so gern zog
Und alle damit in den Wahnsinn trieb
Bis sie irgendwann auf den Dachboden flog
Und schweigend und stumm für immer hier blieb
Alte CDs und vergilbte Bücher
Brauch sie nie mehr und schmeiß sie nicht weg
Metallica-Fahnen und riesige Tücher
Ein schon lange verstorbenes Kassettendeck
Ich behalte fast alles und trenn‘ mich vom Rest
Und auch wenn ich einst alt bin, vergangen die Zeit
Darf die Kiste nicht leer sein, steht fest bereit
Für meinen Kurzurlaub in der Vergangenheit
Gedichte (107)
Widersprüche
Ich sitze und fahre und schreibe schon wieder
denk nach über früher und über Berlin
Über den, der ich war, der ich jetzt nicht mehr bin
die Liebe zur Stadt und den Wunsch wegzuziehen
Ich sitze und esse und rede vom Fasten
Denk an die Uni und schreib Poesie
Lauf immer weiter und würd‘ so gern rasten
Doch ohne Hilfe gelingt mir das nie
Fahr von dir weg und wär so gern bei dir
Halte den Mund und würde gern etwas sagen
Arbeite ständig und fühle mich faul
Der Kopf ist so leer und doch voller Fragen
Bin ich irgendwo will ich auch gleich wieder weg
es scheint gut jetzt zu gehen, doch ich würd‘ so gern bleiben
Stehe nie still, irgendwas muss geschehen
Sitz in der Bahn und will nicht drüber schreiben
Froh und verwirrt und beunruhigt zugleich
Werd‘ bald Vater und fühl mich manchmal wie ein Kind
Glücklich und jauchzend und völlig zerstreut
Komm mir alt vor und merke, wie jung wir doch sind
Ich zweifle soviel und ich fühl mich zufrieden
Bin so wie ich sein will und kann es kaum glauben
Am Abend wird’s dunkel, ich leg mich ins Bett
Der Schlaf kommt vorbei und ich öffne die Augen