Gedichte (102)

Ich wäre gern ein Kind

An langen arbeitsreichen Tagen
Ohne Antwort, voller Fragen
Ohne Ruhe, voller Müh
Arbeitsam von morgens früh
Stetig bis zur späten Nacht
Wenn nichts passiert was fröhlich macht
Dann kommt’s mir manchmal in den Sinn
Wär gerne anders als ich bin

Ich wäre gern ein Kind
Weil Kinder einfach einfach sind
Jünger, kleiner, faltenfrei
Die Welt wäre mir einerlei

Auf kurzen Beinen würd‘ ich stehen
Würd‘ den Tellerrand kaum sehen
Doch große Sorgen hätt‘ ich auch:

Was drückt und zieht in meinem Bauch?
Wo ist mein Spielzeug hingekommen?
Wo ist die Mama hingeschwommen?
Warum muss ich jetzt ins Bett?
Warum ist der Onkel nett
Aber die Tante ist es nicht?
Wieso verzieht die das Gesicht?
Warum riecht es hier so streng
Wieso ist meine Windel eng?

Ich wäre gern ein Kind
Weil Kinderwelten kleiner sind
Passt was nicht, weint man ein wenig
Und gleich ist man meist wieder König
Reicht das nicht, dann schreit man eben
Als ging es einem an das Leben
Danach freut man sich dann im Stillen
Jetzt hat man schließlich seinen Willen
Und wenn nicht wird man schnell abgelenkt
Weil der Opa Spielzeug schenkt
Oder wer Grimassen zieht
Oder was lustiges geschieht
Man kann soviel man will verschmutzen
Muss nicht aufräumen, nicht putzen

Am Tagesende wird man dann
Weil man kaum noch gucken kann
Ins Bett gesteckt samt Kuscheltier
Ein Elch vielleicht, oder ein Stier
Man kennt das Wort dafür ja nicht
Irgendwo brennt ein kleines Licht
Das böse Geister draussen hält
Aus unserer kleinen schönen Welt

Ich wär so gern wieder ein Kind
Weil Kinder einfach knuffig sind

Termine (9)

Einen wunderschönen guten Tag,

am Mittwoch, den 18.01. (also quasi übermorgen), lese ich bei Periplaneta zwei Auszüge aus meinem Romanmanuskript „The Jack“. Ich würde mich sehr über euer Kommen freuen!

Hier die Facebook-Veranstaltung dazu:
Periplaneta Kopfkino

Und da müsstet ihr hin, Periplaneta Literaturcafé Beginn ist um 20.00 Uhr:
Periplaneta

Der nächste Dichtungsring ist am 31.01., diesmal mit Frank Klötgen, Daniel Hoth, Matthias Niklas, Hans Sølo und meiner Wenigkeit. Auch hier würde ich mich sehr über zahlreichen Besuch freuen.

Alles weitere dazu unter:
Dichtungsring – Homepage

Hier auf dem Blog wird sich auch bald wieder einiges regen, im Laufe der nächsten 1 – 2 Wochen werde ich hier über den kommenden Gedichtband berichten, und darüber, wann The Jack nun endlich das Licht der Welt erblickt.

Ach, wat freu ick mir.

Grüße
Larry

Dem Ende entgegen (2)

Einen wunderschönen guten Abend,

über die positiven Reaktionen auf den ersten Teil habe ich mich sehr gefreut. Hier also nun Teil 2 von insgesamt vermutlich 11. Wie regelmäßig die neuen Teile kommen, kann ich noch nicht garantieren, aber ich werde versuchen, zumindest alle zwei Wochen einen neuen Teil zu veröffentlichen.
Ich wünsche allen, die meinen Blog verfolgen, einen guten Rutsch ins neue Jahr und ein paar hoffentlich freie Tage,

Grüße,
Larry deVito

Arno Wilhelm – Dem Ende entgegen – Download Kapitel 1 – 2

Kapitel 2

Zum tausendsten Mal starrte Micha auf den kleinen weißen Zettel, den ihm der Automat in der Klinik letzte Woche ausgedruckt hatte. Ein Stück Papier, nicht größer als ein Briefumschlag, unspektakulär eigentlich. Wenig Text, und doch so voller Information. Drei Punkte standen darauf, abgesehen von seinem Namen und seiner Identifikationsnummer. Der Name der Krankheit, mögliche Therapien und die Lebenserwartung. Unter den Worten „Bronchialkarzinom (spätes Stadium)“ hatte er sich zumindest in der Klinik noch nicht viel vorstellen können, auch wenn das mit dem späten Stadium nichts Gutes hatte erahnen lassen. Nur, dass die Bronchien etwas mit dem Brustkorb und dem Atmen zu tun hatten, daran hatte er sich dunkel erinnert.
Ganz anders verhielt es sich da mit den beiden Punkten darunter. Neben den Worten „Mögliche Therapien“ stand nur „Chemotherapie / keine“, was bedeutete, dass es zur Chemo keine Alternativen geben würde. Da hatte er bereits vermutet, dass ein Bronchialkarzinom irgendeine Art von Krebs war. Krebs war die einzige Krankheit von der er je gehört hatte, die mit Chemotherapie behandelt wurde. Der letzte der drei Punkte war es schließlich gewesen, der ihm den Angstschweiß auf die Stirn getrieben hatte.

„Lebenserwartung (mit / ohne Therapie): 4 Monate / 4 Monate“

stand dort, in dieser schnörkellosen, schwarzen Schrift. Er hatte es nicht glauben können. Die Apparate mussten sich geirrt haben, irgendwo musste hier ein gigantischer Fehler vorliegen. Doch das war unwahrscheinlich. Nicht ein einziges Mal in seinem ganzen Leben hatte er gehört, dass eines der diagnostischen Geräte sich geirrt oder einen Fehler gemacht hatte. Aber drei Monate? Sicher, er hatte in den vergangenen Monaten fast permanent Schmerzen gehabt, oft auch Schmerzen in der Brust, ab und zu ein bisschen Blut gehustet, aber deswegen hatte man doch noch lange keinen Krebs. Daran starb man doch nicht. Jeder hatte doch mal Schmerzen. Jetzt wünschte er sich, er wäre nie in diese Klinik gegangen. Stundenlang ein unangenehmer Test nach dem anderen, bis der komplette Checkup vollendet war. Auf dieser kalten Krankenbahre liegen, während die Geräte im Raum den Körper auf Krankheiten absuchen. Schließlich eine Viertelstunde Wartezeit, und dann wurde die Diagnose ausgegeben. Diese verdammte Diagnose. Das Wort Krebs schien sich selbst jetzt, eine Woche später, noch in seinen Augapfel eingebrannt zu haben. Auch wenn er die Augen schloss, war es noch da und verhöhnte ihn. Dieser kleine weiße Zettel hatte sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt, all seine Pläne für die Zukunft zunichtewerden lassen. Was konnte er noch tun? Was fing man mit drei Monaten an, mit den drei letzten Monaten seines Lebens? Musste er jetzt nicht noch irgendetwas Bedeutsames tun?
Keinem Menschen auf der Welt hatte er bisher von dieser Sache erzählt. Seinen Eltern nicht, seiner Schwester nicht, und auch keinem seiner Freunde. 31 war doch kein Alter, in dem man Krebs bekam. War das nicht etwas für alte Leute? Als er von der Klinik nach Hause gekommen war, hatte er sich noch einmal vergewissert, dass er das Wort Bronchialkarzinom richtig interpretiert hatte.
Dann hatte er sich auf sein Bett gelegt und darüber nachgedacht, wie es nun weitergehen sollte. Nur eines war schnell klar gewesen: Chemotherapie wollte er keine. Darüber hatte er ein bisschen was in der Schule gelernt, und er erinnerte sich noch zu gut an all die Nebenwirkungen, die da aufgezählt gewesen waren. Wenn er nur noch drei Monate zu leben hatte, wollte er die mit Sicherheit nicht im Krankenhaus verbringen. Doch was konnte er mit ihnen anfangen? Genau genommen hatte er die ganze vergangene Woche so gut wie nichts anderes gemacht, als genau darüber nachzudenken. Gestern war er dann endlich zu einer Entscheidung gekommen, und hatte für den heutigen Abend den Termin ausgemacht. Wieviel Uhr es jetzt wohl war? Den ganzen Vormittag hatte er nicht gewagt, seine Armbanduhr aus dem Nachttisch zu holen, in dem Bewusstsein, dass der Abend langsam aber stetig näher rückte. Auch wenn die Schmerzen nach wie vor furchtbar waren, war er sich nicht vollkommen sicher, wie er seinem Entschluss von gestern gegenüber stand. Nicht sicher, ob es die richtige Entscheidung war, auch wenn er das Gefühl hatte, jeden Aspekt bedacht zu haben.
Er gab sich einen Ruck, stand auf und schleppte sich mühsam in die Küche. Leuchtend rot prangte ihm die Uhrzeit vom Herd entgegen. Viertel vor Eins. Erst letztes Jahr hatte er seine ganze Wohnung neu eingerichtet. Hätte er da gewusst, wie wenig Zeit ihm noch bleiben würde, dann hätte er sicher besseres mit seiner Zeit und seinem Geld anzufangen gewusst.
Das Thema Zeit schien immer mehr zu seinem Lieblingsthema aufzusteigen. Plötzlich war sie so kostbar. Dieses Bewusstsein machte ihm überhaupt erst klar, wie sehr er seine bisherige Lebenszeit vergeudet hatte. Unzählige Urlaube, an irgendwelchen Stränden Cocktails schlürfen, sich von den vollautomatischen Servierwagen mit Drinks und Snacks versorgen lassen und sich halb amüsiert und halb gelangweilt die Sonne auf den Pelz scheinen lassen. Auch in Berlin hatte er seine Zeit zum größten Teil dazu genutzt mit seinen wenigen Freunden zu quatschen, irgendwelchen Affären nachzutrauern und Bier in sich hineinzuschütten. Allzu regelmäßig war ihm am Monatsende seine Rente knapp geworden, das Geld das er sich dann von seinen Eltern geliehen hatte, würde er nun wohl nicht mehr zurückzahlen. Das war nun schon der zweite Punkt, bei dem ihm das Thema Geld durch den Kopf ging. Vorher hatte er sich doch auch nie groß Gedanken um Geld gemacht, warum jetzt auf einmal? Vermutlich klammerte man sich einfach automatisch an die materiellen Dinge, wenn man dabei war alles zu verlieren. Vielleicht waren die Gedanken dazu leichter zu ertragen, als das Bewusstsein, was er allzu bald noch alles verlieren würde. War das möglich? Ergab das Sinn?
Zeit spielte da schon eher eine wirklich große Rolle. Aber wie hätte er seine Zeit in den letzten Jahren besser nutzen können, als mit Affären, Urlauben und Feiern? Er hatte nie Hobbys gefunden, die richtig zu ihm passen wollten, auch wenn er in seiner Kindheit und Jugend alles ausprobiert hatte, was ihm in den Sinn gekommen war. Im Keller seiner Eltern stapelten sich die Relikte, die daran erinnerten: Ein Billard-Kö, zwei Tischtennis-Schläger, eine Blockflöte, die kaum je zum Einsatz gekommen war, mehrere Anzüge für Judo und Karate, Bausätze für kleine Roboter, ein Fußball und mehrere Basketball-Leichen, denen schon lange niemand mehr Luft zugeführt hatte. Nichts davon hatte ihn mehr als ein paar Monate bei der Stange halten können.
Ein plötzlicher Hustenanfall überkam ihn und er griff nach einem Taschentuch, um das Blut nicht in der ganzen Küche zu verteilen. Nur mit Mühe schaffte er es, seine Atmung wieder zu beruhigen. Dieser verfluchte Husten, es tat jedes Mal so verflucht weh, als würde ihm jemand die Lunge aus dem Leib reißen. Wenn er lag war es meistens auszuhalten, doch sobald er aufstand, konnte er den Hustenreiz kaum unterdrücken. Er versuchte sich wieder zu konzentrieren, zwang sich, an den Gedanken anzuknüpfen, dem er gerade nachgegangen war.
Gut, Hobbys waren nicht sein Fall, was blieb sonst noch groß? Arbeit hätte es für ihn doch eh keine gegeben, und die richtige Frau hatte er bisher auch nicht kennengelernt. Ein paar schöne Frauen waren dabei gewesen, das musste er sich eingestehen, aber keine von ihnen wäre interessant genug gewesen, um mit ihr das Leben zu verbringen. Ein Leben, von dem ihm nun sowieso nichts mehr bleiben würde. Was das anging, war er auch froh, keine Kinder in die Welt gesetzt zu haben. Er konnte sich kaum etwas Schrecklicheres vorstellen, als seinen Kindern sagen zu müssen, dass man bald nicht mehr da sein würde, um ihnen beim Aufwachsen zu helfen. Letzten Endes war es also vielleicht gar nicht so schlecht, dass es ihn traf, wenn es schon überhaupt jemanden treffen musste. Es gab so viel Technik, alles wurde vollautomatisch durchgeführt, ständig wurde von irgendwelchen neuen Errungenschaften berichtet. Wieso gab es überhaupt noch Krankheiten? Seit Tagen gingen ihm so viele Gedanken durch den Kopf, und er hatte so wenig Antworten dazu.
Tief in Gedanken blickte er durch das miserabel geputzte Fenster hinaus in die Welt. Alles sah aus wie immer, jeder ging seinen Geschäften nach und versuchte, dem nebligen, trüben Wetter möglichst schnell wieder zu entfliehen. Im Kiosk gegenüber hämmerte ein älterer Mann entnervt auf den Knöpfen des Service-Automaten herum, vermutlich hatte er irgendeinen Fehler bei der Bedienung gemacht und machte sich jetzt nicht die Mühe, die Fehlermeldung auf dem Display zu lesen. Unwillkürlich musste Micha lächeln. In den letzten Tagen hatte ihn die Vorstellung so sehr beschäftigt und traurig gemacht, dass ihn hier kaum jemand vermissen würde. Ein paar Freunde, seine Familie, sonst niemand. Aber aus Gründen, die er nicht nachvollziehen konnte, versöhnte der Anblick des alten Mannes, der nun immer wütender auf die Knöpfe einprügelte, ihn ein Stück weit mit der Welt.
Vielleicht sollte er sich einen Plan zurechtlegen, wie er diesen Tag angehen würde, dachte er, noch immer mit einem Lächeln im Gesicht. Er würde es seinen Eltern erzählen, ihnen von der Diagnose und dem Termin erzählen, beschloss er, doch was konnte er danach tun? In Gedanken wanderte er seine Lieblingsplätze in der ganzen Stadt ab und entschloss sich dann, in den Zoo zu gehen. Dort war er lange nicht gewesen, aus Faulheit hauptsächlich, doch die Tiere würden ihm helfen, auf andere Gedanken zu kommen und es sich selbst leichter zu machen. Danach konnte er sich ja noch ein bisschen durch die Stadt treiben lassen, bis es an der Zeit war.
Einen Augenblick überlegte er, ob er hinuntergehen und dem alten Mann, der mittlerweile mit hochrotem Kopf den Automaten anbrüllte, helfen sollte, doch er entschied sich dagegen. Schließlich war heute ein besonderer Tag. Jetzt wo er es endlich aus dem Bett geschafft hatte, wollte er nicht noch mehr kostbare Zeit vergeuden.

Dem Ende entgegen (1)

Einen wunderschönen guten Abend,

das Jahr neigt sich so langsam dem Ende und ich möchte ein kleines Weihnachtsgeschenk loswerden. Für mich war es ein großartiges Jahr, mit etlichen Auftritten auf Slams, Lesungen und meiner Lesebühne. Vielen Dank an alle, die hier mitgelesen haben. Ich hoffe, 2012 wird ebenso schön. So wie es aussieht, wird es in den nächsten Monaten auch noch eine Menge Neuigkeiten von meiner Seite zu erzählen geben.
Aber jetzt erstmal zum Geschenk:
Ich schreibe an einer neuen Kurzgeschichte, die ich hier auf dem Blog nach und nach veröffentlichen werde. Heute kommt das erste Kapitel. Die Geschichte spielt in der Zukunft und heißt „Dem Ende entgegen“.
Wer Kritik, Lob oder irgendetwas dazu zu sagen hat: Ich freue mich sehr über Mails an belaw@gmx.net, oder über Kommentare unter diesen Post.

Ich wünsche euch ein schönes Weihnachtsfest und einen guten Rutsch ins Jahr 2012!

Gruß
Larry deVito

Arno Wilhelm – Dem Ende entgegen – Download Kapitel 1

Arno Wilhelm – Dem Ende entgegen

Kapitel 1

„Diese Entdeckung führte zu einem Umbruch, der bis heute in der gesamten Weltgeschichte einzigartig ist. Ein Einschnitt, der sich durch alle Bereiche der Wissenschaft und Wirtschaft zieht. In den Jahren danach ist die effektiv notwendige Anzahl der Beschäftigten weltweit auf knapp eineinhalbtausend gesunken. Die Tendenz ist nach wie vor fallend, weshalb mit der Zeit unter den Akademikern und Führungspersönlichkeiten ein immer härterer Kampf um die wenigen verbliebenen Arbeitsstellen entstand. Ein Kampf, dem auch Sie sich in wenigen Jahren werden stellen müssen.“
Tims Stimme hallte von den Wänden wieder. Das winzige Mikrofon an seiner Wange, das von den Plätzen der Studenten aus kaum zu erkennen war, verschaffte ihm ausreichend Lautstärke, um auch in den hintersten Reihen des Hörsaals noch verstanden zu werden. Über 200 Augenpaare ruhten auf ihm, in seinem schwarzen Anzug mit grauer quergestreifter Krawatte. Jede seiner Bewegungen, jedes Wort und jede Geste wurden genau beobachtet. Nicht ein einziger von ihnen wagte es, zu schlafen, oder im Geringsten unaufmerksam zu wirken, auch wenn sie den Stoff seiner Vorlesung vermutlich beinahe ebenso gut kannten, wie er selbst. Das Fach hieß „Geschichte der Weltwirtschaft III“ – von den Studenten meist nur kurz WeWi III genannt – und umfasste die Entwicklungen der globalen Ökonomie von 2100 bis heute. 89 ereignisreiche Jahre, in ein einziges Semester gezwängt. Eine Stoffdichte, die in modernen Hochleistungs-Studiengängen wie diesem durchaus üblich genannt werden konnte.
Die heutige Vorlesung war Tim die liebste des ganzen Semesters, da das Jahr 2105, das sie in dieser Sitzung behandelten, derart einschneidende Veränderungen in der Welt hinterlassen hatte, dass diese auch heute noch den Alltag jedes Menschen, egal ob Mann, Frau oder Kind, beeinflussten.
„Natürlich besteht seit damals für jeden von uns die Möglichkeit, mit Hilfe der staatlichen Sofortrente schlicht gar nicht mehr zu arbeiten.“, fuhr er nun fort. „Ein Luxus unserer Zeit, den über acht Milliarden Menschen Tag für Tag in Anspruch nehmen, doch ich vermute, dies kommt wohl für keinen von Ihnen in Frage.“
Verhaltenes Gelächter auf den Bänken. Eine derartige Vorstellung war für die hier Versammelten mehr als absurd.
„Das hatte ich mir gedacht. Gut, das war es für heute, denken Sie an die Essays bis kommenden Freitag. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit“
Die Studenten klopften respektvoll auf die Tische, dann packten sie alle leise ihre Unterlagen zusammen und verließen den Saal in die verschiedensten Richtungen. Heute kam niemand zu ihm nach vorne, um irgendwelche Fragen zu stellen oder über den Vorlesungsstoff zu diskutieren, und auch wenn ihn das verwunderte, war er doch froh darüber.
Gemächlich sammelte Tim die auf dem Pult vor ihm verteilten Notizen ein und schaltete den Projektor aus. Er zog seine goldene antike Taschenuhr hervor. Es war jetzt kurz nach Zwölf. Noch acht Stunden. Seine Mundwinkel verzogen sich kaum merklich zu einem bitteren Lächeln.
Für einen winzigen Augenblick blieben seine Augen auf den Buchstaben hängen, die in schwungvollen Lettern in die Rückseite der Uhr graviert waren.

H.F.

Helena hatte sie ihm zum ersten Hochzeitstag geschenkt. Damals, als sie noch glücklich gewesen waren. Dessen war er sich sicher, an diesen Tagen waren sie glücklich gewesen. Lange bevor auch nur einer von ihnen ein Wort wie „Scheidung“ zum ersten Mal gedacht oder in den Mund genommen hatte. Tim spürte, wie die Kopfschmerzen langsam wiederkehrten und kramte in seiner Tasche nach einer weiteren Aspirin. Die wievielte war es heute? Vielleicht die fünfte? Er zählte es nicht mehr, es war auch egal. Noch acht Stunden. Mit der Selbstbeherrschung, die er sich in den letzten drei Wochen zu eigen hatte machen müssen, um überhaupt weiter zu funktionieren und seinem Alltag nachgehen zu können, lenkte er seine Gedanken zurück in die Gegenwart. Schnell steckte er die Uhr wieder in sein Jackett, nahm seine Tasche und verließ den Hörsaal zügig. Nur für einen winzigen Augenblick hatte er sich gehen lassen, nur für einen klitzekleinen Moment, doch noch immer konnte er den Schmerz, daran zu denken, nicht ertragen. Irgendwie musste er diesen Tag überstehen. Kleine, übersichtliche Schritte. Das war jetzt das Entscheidende. Er stieß die Tür nach draußen auf, trat auf den Campus und sog geräuschlos die kalte Herbstluft in sich auf.
Sollte er seinen Wagen nehmen oder war es besser, sich heute fahren zu lassen? Spontan entschied sich Tim, seinen Porsche in der Uni-Tiefgarage stehen zu lassen. Jede Fahrt in den letzten Wochen war ein Kampf mit der Versuchung gewesen, etwas sehr dummes zu tun. Am heutigen Tag durfte er sich nicht zu dergleichen hinreißen lassen. Schon mit dem Gedanken zu spielen war keine gute Idee.
Auf der Straße hielt er ein vorbeifahrendes Taxi an, indem er einen Daumen hinausstreckte, wie es im vergangenen Jahrhundert oft die Anhalter am Straßenrand getan hatten. Die schwarze Mercedes-Limousine hielt an und er ließ sich auf dem Beifahrersitz nieder. Der Fahrersitz war leer, doch das überraschte Tim nicht. Jedes Taxi wurde ausschließlich über den zentralen Bordcomputer gesteuert, der dank der Leitlinien auf der Straße, sekundenaktuellen GPS-Bildern, zahlreichen Kameras und Sensoren seiner Aufgabe, einen sicher ans Ziel zu bringen, bestens gewachsen war. In den Touchscreen tippte Tim die Adresse seines Appartements in Schöneberg und das Taxi machte sich geräuschlos auf den Weg durch das herbstlich düstere Berlin.
All diese Technik, von der er seinen Studenten gerade noch erzählt hatte, war so einflussreich, so entscheidend für die Welt, und dennoch konnte sie bei der menschlichen Gefühlswelt nicht weiterhelfen. Egal wie revolutionär es damals gewesen war, als man begann, die natürlichen Rohstoffe massenweise künstlich zu reproduzieren und gleichzeitig die weltweit notwendigen Arbeitstätigkeiten auf Maschinen und Roboter zu verlagern. Sobald es um Liebe ging, um Trauer, konnte keine Technik der Welt etwas an den Grundfesten des Problems ändern. Es mochte heute Dating-Agenturen geben, die über chemische Bestandteile deiner Haut und stundenlange Psychoanalyse den einen perfekten Partner auf der Welt für dich fanden, und trotzdem war nicht garantiert ob die Beziehung glücklich enden würde. Perfektion war auf Gefühlsebene nicht notwendig, es ging vielmehr um Glück. Eine Form von Glück, bei der technische Überlegenheit nichts ausrichten konnte. Mit müden Augen beobachtete Tim die Stadt, wie sie an seinem Taxi vorbeizog, sah die Menschen in den Cafés und Restaurants sitzen und sich unterhalten. Wie gerne würde er doch zu ihnen gehören, dachte er voll Wehmut. Zu diesen einfachen Leuten, die tagein, tagaus nichts anderes taten, als sich miteinander zu verabreden, zu essen, zu trinken und irgendwelchen Hobbys nachzugehen. Wenig Schulbildung, wenig Antrieb, ein hohes Maß an Zufriedenheit. Die erste Generation hatte noch Schwierigkeiten gehabt, sich anzupassen, als sie fast alle ihre Jobs verloren hatten und von einem Tag auf den anderen jedermann die Grundrente ausbezahlt bekam. Vielen war es damals noch schwer gefallen, sich von dem Gedanken an Arbeit zu lösen, das wusste Tim aus den Erzählungen seiner Großeltern und aus alten Quellen an seinem Institut. Nur wenige hatten weitergemacht, geforscht und gearbeitet. Ein winziger Prozentsatz wurde noch benötigt um die Technik weiterzuentwickeln. Herstellung, Feinschliff, Programmierung, all das konnten heutzutage Roboter erledigen, doch tatsächlich auf neue Ideen zu kommen, neues zu erfinden, das war bisher technisch nicht ersetzbar gewesen.
Die Menschen in den Cafés sahen so entspannt aus, so glücklich, dachte Tim. Früher hatte er sich darüber nie Gedanken gemacht, wie es den Menschen ohne Arbeit ging. Er war stolz gewesen, zu den wenigen Auserwählten zu gehören, die die Forschung vorantrieben und die ein Leben kannten, das nicht nur aus Konsum und Freizeit bestand. Doch war es das wert? Die zahlreichen Stunden, Tage, Wochen, die er gearbeitet hatte – hätte er sie nicht besser mit Helena verbringen sollen? Um diesen mittlerweile vollkommen sinnlosen Punkt kreisten seine Gedanken nun schon seit Tagen wieder und wieder. Es war vorbei, und nichts in der Welt würde das mehr ändern können. Das waren ihre Worte gewesen.
Als das Taxi vor seinem Haus hielt, stieg er aus. Bezahlen war nicht nötig, das Taxi fuhr sofort weiter, als er ausgestiegen war. Zügig betrat er das Haus, fuhr mit dem Fahrstuhl nach oben und betrat seine Wohnung. Diese Wohnung voller Erinnerungen.
Noch sieben Stunden und vierzig Minuten, dachte er.

Termine (8)

Guten Tag ihr lieben Menschen,

am 14.12., also kommenden Mittwoch, trete ich im Suicide Circus bei dem Kurzfilmabend shortCuts auf. Den Blog zu der Veranstaltung findet ihr hier: shortCUTS
Der Eintritt ist frei!

Ich würde mich sehr freuen, euch dort zu sehen.

Mit den besten Grüßen
Larry deVito

Gedichte (101)

Genesungslyrik II – Teil 22

Adieu

Ich hör am Strand das Meeresrauschen
Und sage ihm Auf Wiedersehen
Kann ein letztes Mal ihm lauschen
Morgen wird’s Zeit heimzugehen

Dankbar bin ich für die Zeit
Hinter Rostock und Schwerin
Bin für die Rückkehr nun bereit
In mein wunderschönes, hässliches
und unvergessliches Berlin

Gedichte (100)

Es ist mal wieder Jubiläumszeit. Heute erscheint das 100. Gedicht auf diesem Blog und geht auch der Gedichtzyklus „Genesungslyrik II“ dem Ende entgegen. 100 Gedichte seit Anfang 2007, dankeschön an jeden einzelnen, der mal auf dieser Seite war, es macht mir auch nach vier Jahren noch viel Spaß diesen Blog zu führen.

Mit den besten Grüßen
Larry deVito 

Genesungslyrik II – Teil 21

Die Angst vor morgen

Im Magen braut sich ein Gewitter
Aus Leid und Schuldgefühl zusammen
Frust schmeckt bitter
Und der klammen
Hände zittern offenbart die Sorgen
Um Existenz und Lebensmut
Die Angst vor morgen
Eine kleine Prise Wut

Auf den, der das alles hier verteilt
Glück gibt und nimmt und frei entscheidet
Wen das Schicksal bald ereilt
Wer lacht, wer liebt und wer noch leidet

Wenn der Morgen graut ist das Aufgeben so nah
Und trotzdem muss es weitergehen
Denn noch ist’s wahr, sie dreht sich doch
Und dass es einmal besser wird
Dafür lohnt es sich aufzustehen

Gedichte (99)

Genesungslyrik II – Teil 20

Schweigen ist Gold

Er redet viel und sagt nur wenig
Er fühlt sich dabei wie ein König
Und ist doch nur der siebte Zwerg
Das fünfte Rad, ein Stein am Berg

Malt güld’ne Bilder mit den Worten
Die mich einfach nicht begeistern 
Denn stets will er nur allerorten
Sein Antlitz an die Wände kleistern

Ich denk dabei an Winnetou und längst vergangene Zeiten
An Shatterhand und wie sie durch den Wilden Westen reiten
Und was die Bücher dem Leser dabei zeigen:

Das höchste Gut ist oft das Schweigen

Gedichte (98)

Genesungslyrik II – Teil 19

Rückblick

So viel Veränderung, so viele Jahre,
Gedanken an längst verlorene Zeiten
Erinnerung, die ich bis heut‘ bewahre
Große Momente, wundervolle Kleinigkeiten

Ich bin nicht mehr, der ich einst war
Werd‘ es auch niemals wieder sein
Doch die Erinnerung, sie ist noch klar
Sie lässt mich niemals allein

Gedichte (97)

Genesungslyrik II – Teil 18

Späte Tanzwut

Freitag Abend, heut‘ geht’s los
die Rentner rufen auf zum Tanz
frisch aufgetakelt und furios
erwecken ihrer Jugend Glanz

Sie fegen furchtlos hin und her
Gehhilfen hoch in die Luft
tagsüber geht gar nichts mehr
jetzt weht hier Kölsch-Wasser-Duft

Legen ’ne heiße Sohle auf
Walzer, Tango, Slowfox, Jive
Blessuren nehmen sie in Kauf
die Alten geben sich High-Five

Jeden Tanz bekomm’se hin
die Prothesen festgezurrt
haben die guten Zähne drin
keiner der hier mault und murrt

Ein bisschen Heino und Roy Black
ich war noch niemals in New York
noch was von Dieter-Thomas Heck
schon wird neuer Wein entkorkt

Die ganze Klinik dreht am Rad
man tritt einander auf den Fuß
und wer keinen Partner hat
tanzt den Rollator-Klammerblues